Das Opfer
Körpersprache zu deuten; sie signalisierte sowohl freudige Erregung wie auch Frustration. Sie war entspannt, sie genoss den Moment, in dem sie den Pinsel in der Hand hielt und sah, wie sich die Farben vor ihren Augen entfalteten. Catherine kam plötzlich der Gedanke, dass die junge Frau und ihr Gemälde den gleichen Vorgang durchmachten: Sie nahmen Gestalt an.
Nachdem Ashley mit dem Bus eingetroffen war, hatten sie den größten Teil des Abends damit verbracht, zusammen Tee zutrinken und darüber zu reden, was passiert war. Catherine hatte mit einer Mischung aus ungläubigem Staunen und wachsendem Unbehagen zugehört.
Sie blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie Ashley einen langen blassblauen Streifen Wasserfarbenhimmel auftrug. »Es ist nicht richtig«, sagte sie laut.
Sie merkte, wie ihr die Angst hochkroch, Ashley könnte sich – so ihr diffuses Gefühl – von O’Connell irgendwie infizieren lassen. Sie fürchtete, das Mädchen könnte sich am Ende wegen der Verhaltensweise eines einzigen Mannes gegen alle Männer wenden.
Catherine hielt sich am Rand des Spülsteins fest. Sie sah sich außerstande, die düstere Vorstellung ganz zu Ende zu denken. Sie wollte sich den Wunsch nicht eingestehen: Möge Ashley nicht werden wie Hope. Als sie merkte, wie sich diese Wolke über ihre Stimmung legte, war sie wütend auf sich, denn sie liebte ihre Tochter. Hope war intelligent. Hope war schön. Hope hatte Charme. Hope war für andere eine Quelle der Inspiration. Hope holte aus den jungen Leuten, mit denen sie arbeitete und die sie trainierte, das Beste heraus. Hope hatte alles, was sich eine Mutter an ihrer Tochter nur wünschen konnte, mit einer einzigen Ausnahme, und die türmte sich wie ein Berg vor Catherine auf, den sie nicht überwinden konnte. Während sie durchs Fenster ihre – ja, was? Nichte? Adoptivenkelin? – betrachtete, kam sie über ihre Ängste nicht hinweg. Was Catherine in diesem Moment nicht erkannte, war die Tatsache, dass sie sich mit den vollkommen falschen Ängsten plagte.
»Wie ist Murphy gestorben?«, wollte ich wissen.
»Wie? Das ist doch wohl nicht schwer zu erraten. Eine Kugel. Vielleicht ein Kandelaber wie in
Alle Mörder sind schon da
. Was weiß ich«, erwiderte sie.
»Nein, wie tatsächlich …«
»Die Frage sollte besser lauten, warum?«, meinte sie. »Eines wüsste ich gerne«, fuhr sie plötzlich fort. »Hat man wegen des Mords an Murphy überhaupt irgendjemanden verhaftet?«
»Nein, nicht, dass ich wüsste.«
»Also, ich habe das Gefühl, dass Sie an der falschen Stelle nach Antworten suchen. Niemand wurde verhaftet. Das spricht Bände, oder? Sie wollen, dass ich, irgendein Kripobeamter oder auch ein Staatsanwalt, dass einer von uns Ihnen sagt: ›Also, Murphy wurde von, Sie wissen schon, ermordet, aber für einen Haftbefehl hatten wir nicht genügend Beweise gegen ihn in der Hand.‹ Das wäre natürlich sehr angenehm und einfach, ein sauberer Schnitt.« Sie hielt inne. »Aber ich habe Ihnen nie eine einfache Geschichte versprochen.«
Das stimmte.
»Können Sie so kreativ denken wie Scott, Sally, Hope und Ashley?«
»Ja«, antwortete ich ein wenig vorschnell.
»Gut«, sagte sie etwas verächtlich. »Leichter gesagt als getan.« Ich ersparte mir eine Entgegnung.
»Aber verraten Sie mir eins: Gilt das auch im Vergleich zu Michael O’Connell?«
26
Der erste Übergriff
Von der Mitte der Longfellow Bridge aus konnte er den Charles hinauf bis nach Cambridge sehen. So früh am Morgen war es kalt und frisch, doch mitten auf dem Fluss schnellten Boote dahin, deren Ruder im Gleichtakt durch das tiefblaue Wasser pflügten und an der ruhigen Oberfläche kleine Strudel bildeten. Überall sonst polierte die aufgehende Sonne das Wasser zu Spiegelglanz. Er hörte, wie die Mannschaften zum Takt der Befehle des Steuermanns in Synkopen ächzten. Besonders gefiel ihm, wie der Kleinste das Tempo vorgab, wie das schwächste Glied die Kräftigeren beherrschte. Der Geringste war der Wichtigste; er sah als Einziger, wohin sie fuhren, und er saß am Steuer. O’Connell behagte der Gedanke, dass er zwar körperlich stark genug war, das Boot voranzubringen, zugleich aber schlau genug für das Ruder im Achtersteven.
O’Connell schlenderte gern über die Brücke, wenn er ein vertracktes Problem zu lösen hatte. Auf der Fahrbahn toste der Verkehr, während die Passanten auf dem Fußweg zügig zur Arbeit liefen. Unter ihm strömte das Wasser Richtung Meer, und in der Ferne
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