Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
In den erstenNovembertagen wird es in Neuengland am Abend schnell dunkel, und es ist von einem Moment zum anderen Nacht. In dieser Zeit des Übergangs fühlte er sich zu Hause.
    Jetzt ging es nur noch darum, ins Haus zu kommen, ohne dass ihn jemand bemerkte, insbesondere nicht Murphy oder seine Sekretärin. Er holte noch einmal tief Luft, konzentrierte sich auf Ashley, rief sich ins Gedächtnis, dass er ihr nach diesem Abend sehr viel näher sein würde, und lief zügig weiter. Hinter ihm ging plötzlich eine Lampe an. Er hielt sich für unsichtbar, niemand wusste oder ahnte, dass er hier war.
    Als er die Haustür erreichte, sah er, dass der Eingangsbereich menschenleer war. In einer Sekunde war er drinnen.
    Er hörte ein leises Rauschen, als der Fahrstuhl herunterkam. Augenblicklich durchquerte er den Flur und trat auf die Treppe des Notausgangs, wo er genau in dem Moment, als der Lift unten war, die Tür hinter sich schloss. Er drückte sich an die Wand und versuchte, sich die Leute jenseits der Stahltür vorzustellen. Er glaubte, Stimmen zu hören. Während ihm der Schweiß in die Achselhöhlen trat, glaubte er, Murphys unverwechselbare Stimme und die seiner Sekretärin zu erkennen.
    Muss diese Möpse füttern, sagte er sich. Sie ist spät dran.
    Er hörte, wie die Haustür zufiel.
    O’Connell sah auf die Uhr. Komm schon, flüsterte er. Feierabend. Leiter der Beratungsstelle, du bist dran.
    Er drückte sich wieder an die Wand und wartete. Das Treppenhaus war nicht gerade das ideale Versteck, doch er wusste, dass es an diesem Abend seinen Zweck erfüllen würde. Wieder ein Zeichen, dass es ihm bestimmt war, mit Ashley zusammen zu sein. Wir sind füreinander geschaffen. Er mäßigte seinen schnellen Atem und schloss die Augen, um sich ganz seiner Obsession hinzugeben und im Gedanken an Ashley geduldig auszuharren.
    Im Lauf seines Lebens war O’Connell schon in eine Reihe Geschäfte, das eine oder andere Haus und mehr als eine Fabrik eingebrochen, wenn sich dort niemand mehr aufhielt. Er vertraute auf sein Können, während er auf der kalten Steintreppe saß und wartete. Er hatte sich für den Fall, dass ihn jemand dort entdeckte, nicht einmal eine Ausrede zurechtgelegt. Er wusste, dass er dort sicher war. Er wusste, dass ihn die Liebe beschützte.
    Es war schon fast sieben, als er zum letzten Mal das Knarren des Fahrstuhls hörte. Er hielt den Atem an und neigte sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Mit einem Schlag saß er im Dunkeln. Der Büroleiter hatte am Hauptschalter neben dem Fahrstuhl das Licht gelöscht. Er hörte, wie die Haustür aufging und zufiel, dann ein einziges Klicken im einzigen Schloss. Er sah auf die Uhr, deren Ziffernblatt gerade noch hell genug leuchtete, dass er die Zeit erkennen konnte.
    Er wartete noch eine Viertelstunde, bevor er durch die Tür des Treppenhauses wieder in den Eingangsflur trat. Er war beinah erstaunt, wie leicht alles ging.
    Durch die Glastür warf er einen vorsichtigen Blick auf die menschenleere Straße. Dann drehte er an dem Einriegelschloss und verließ das Haus.
    Rasch war er wieder an seinem Wagen und holte die Tasche aus dem Kofferraum.
    In wenigen Minuten war er wieder zurück im Gebäude.
    Als Erstes griff er in die Tasche und zog mehrere Paar OP-Handschuhe heraus, die er übereinander anzog – ein mehrfacher Schutz. Dann holte er eine Sprühdose mit einem Desinfektionsmittel auf Ammoniakbasis heraus und besprühte gründlich den Hebel des Riegelschlosses, den er angefasst hatte. Als das erledigt war, machte er die Tür wieder zu. Genauso verfuhr er mit der Klinke der Tür zum Treppenhaus und jederanderen Stelle, die er vielleicht mit den Händen berührt hatte. Dann ging er die Treppe zum zweiten Stock hinauf und holte unterwegs eine kleine Taschenlampe heraus. Er hatte sich die Mühe gemacht, die Vorderseite mit rotem Klebeband zu dimmen. Zwar hatte er auf diese Weise nur halb so viel Licht, doch das war durch ein Fenster praktisch nicht zu sehen. Er nahm sich die Zeit, auf dem Flur nach Sicherheitsvorrichtungen zu suchen, fand jedoch keine. Michael O’Connell schüttelte den Kopf. Er hätte gedacht, dass Murphy einen sicheren Arbeitsplatz gewählt hätte. Doch Infrarotkameras und Videoüberwachung kosteten Geld. Dieses Gebäude bot ihm wahrscheinlich eine äußerst niedrige Miete, und darin lag sein Reiz.
    Er schmunzelte.
    Davon einmal abgesehen, was war hier schon zu holen?
    Kein Bargeld. Keine Juwelen. Keine Kunst. Keine tragbaren

Weitere Kostenlose Bücher