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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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war er allerdings zur Seite getreten und hatte aus dem Fenster geschaut, um festzustellen, was Murphy machte.
    Dann lachte er leise. Der Detektiv ging ahnungslos vorbei.
    Als hätte er sich vor nichts und niemandem auf der Welt zu fürchten, dachte O’Connell, während er den offenbar unbekümmerten Murphy zügigen Schritts Richtung Parkplatz laufen sah. Vielleicht ist das auch nur die Arroganz eines Kerls, der glaubt, dass ihm niemand was anhaben kann, dachte er.
    Ob man jemanden wiedererkennt, hängt entscheidend vom Kontext ab. Wenn man damit rechnet, jemandem zu begegnen, erkennt man ihn auch. Wenn nicht, dann nicht. Dann wird man quasi unsichtbar.
    Murphy würde niemals auf den Gedanken kommen, dass O’Connell den Detektiv so leicht bis zu seinem Arbeitsplatz zurückverfolgen könnte. Ebenso wenig würde Murphy damit rechnen, dass Michael O’Connell seine Privatanschrift einschließlichTelefonnummer in der Tasche hatte. Murphy würde sich auch nicht träumen lassen, dass O’Connell, nachdem er ihn geohrfeigt hatte, ihm bis nach West-Massachusetts folgen würde. Das alles konnte der Mann nicht ahnen, dachte O’Connell. Und deshalb konnte er mich nicht sehen, auch wenn ich keine zwanzig Meter von ihm entfernt stand.
    Er dachte, er wäre fertig mit mir.
    O’Connell kehrte zu seinem Wagen zurück, wo er wartete und das Gebäude beobachtete; er nahm sich die Zeit zu notieren, wann die anderen wenigen Büroangestellten in dem Haus Feierabend machten. Eine davon war vermutlich Murphys Sekretärin. Er sah zu, wie die Frau genau wie zuvor der Detektiv Richtung Parkplatz eilte. Kein netter Zug, dachte er, dass er es der Frau überlässt, für einen Hungerlohn abends dichtzumachen. Besonders wenn sie nicht die Kunst beherrscht, Türen wirklich sicher zu verschließen. Wenig später drehte er den Zündschlüssel und fuhr langsam aus seiner Parklücke, um seine Abfahrt genau auf ihre abzustimmen.
    Binnen achtundvierzig Stunden hatte er genügend Informationen für seinen nächsten Schritt zusammen, der es ihm ermöglichen würde, Ashley wieder ungehindert zu folgen.
    Er wusste jetzt einigermaßen, wann jeweils die anderen Büros in Murphys Gebäude schlossen. Er wusste, dass der Leiter der sozialen Beratungsstelle gegenüber Murphys Büro als Letzter ging und die Haustür mit nur einem einzigen Schlüssel abschloss. Der Anwalt im Erdgeschoss hatte nur eine juristische Hilfskraft. O’Connell hegte den Verdacht, dass er seine Frau betrog, denn er und die Assistentin verließen das Gebäude Arm in Arm und mit einem Gesicht, als täten sie etwas Verbotenes. O’Connell gefiel die Vorstellung, dass sie es auf dem Fußboden trieben und sich auf einem schmutzigen, abgewetzten Teppich wälzten. Seine Phantasien über die Örtlichkeit,ihre Positionen und sogar ihre Leidenschaft halfen ihm, die Zeit totzuschlagen.
    Über Murphys Sekretärin wusste er nicht viel, doch das eine oder andere hatte er immerhin in Erfahrung bringen können. Sie war Anfang sechzig und verwitwet. Sie war alleinstehend, eine unscheinbare Frau mit einem unscheinbaren Leben, in dem ihr einzig zwei Möpse Gesellschaft leisteten, die Mr. Big und Beauty hießen. Sie liebte die Hunde.
    O’Connell war der Frau in einen Stop-and-Shop-Supermarkt gefolgt. Es war nicht schwer gewesen, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln, als sie vor dem Hundefutter stehenblieb.
    »Entschuldigen Sie bitte, vielleicht können Sie mir helfen … Meine Freundin hat gerade einen kleinen Hund übernommen, und ich wollte ihm was richtig Erlesenes zu fressen kaufen, aber es gibt einfach zu viele Sorten. Verstehen Sie viel von Hunden?«
    Er ging davon aus, dass sie nach ihrer kleinen Plauderei denken würde:
Was für ein höflicher junger Mann
.
    Michael O’Connell hatte seinen Wagen zwei Häuserblocks von Murphys Gebäude entfernt, in entgegengesetzter Richtung von dem Parkplatz abgestellt, den offenbar alle im Haus benutzten. Es war viertel vor fünf, und er hatte alles, was er brauchte, in einer billigen Sporttasche zusammengepackt und im Kofferraum verstaut. Er atmete langsam ein und aus, um sich wie ein Schwimmer vor dem Besteigen des Startblocks zu beruhigen.
    Ein einziger prekärer Moment, der Rest war höchstwahrscheinlich ein Kinderspiel.
    O’Connell stieg aus, vergewisserte sich noch einmal, dass seine Parkuhr bis zum Anschlag gefüllt war, und lief zügig hinüber. An der Ecke blieb er stehen und wartete, bis sich die ersten abendlichen Schatten über die Straße senkten.

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