Das Opfer
Hauptkommissar seufzte, nahm die Füße von seinem Schreibtisch und schwang herum.
»Haben Sie Mr. Murphy gekannt?«
»Nein.«
»Er war nicht unbedingt jemand, den die Leute mochten«, erklärte er und schüttelte den Kopf. »Er war eher jemand, der die Gratwanderung liebte, juristisch gesprochen. Bis wir Näheres über den Hintergrund in Erfahrung bringen, können wir nicht wissen, von welcher Seite des Grates der Mord ausging. Einmal von dem abgesehen, was die Leiche uns verrät, und das war nicht viel.«
»Aber immerhin etwas?«
»Der Mord lässt auf einen Profi schließen …«
Der Hauptkommissar stand auf, trat hinter mich und legte mir den Zeigefinger auf den Hinterkopf. »Peng, peng«, sagte er. »ZweiSchüsse in den Kopf. Kaliber .25, mit Schalldämpfer vermutlich. Es handelte sich wahrscheinlich um Expansionsgeschosse. Beide Kugeln hatten weiche Spitzen und waren stark deformiert, als man sie entfernte, so dass ein ballistischer Abgleich unmöglich ist. Dann wurde die Leiche in eine schmale Gasse gezerrt und hinter Mülltonnen geschoben, wo sie unentdeckt blieb, bis am nächsten Morgen die Müllabfuhr kam. Derjenige, der ihn erschossen hat, besaß die Fähigkeit, sich Murphy unbemerkt zu nähern. Sehr wenige verwertbare Indizien. Nicht einmal eine abgeworfene Patronenhülse, was die Vermutung weiter erhärtet, dass wir es mit einem geübten Killer zu tun haben, der sich die Mühe machte, sie aufzulesen, bevor er verschwand. In der Nacht, in der er getötet wurde, regnete es ziemlich stark, was den Tatort zusätzlich in Mitleidenschaft zog. Keine Zeugen. Keine offensichtlichen Spuren. Von Anfang an ein sehr schwieriger Fall, ohne dass uns jemand die Richtung zeigen konnte.«
Er lief einen Bogen und ließ sich diesmal auf der Ecke seines Schreibtischs nieder. Er lächelte, doch es hatte etwas von einem Barrakuda.
»Was war das nun für ein Mord? Rache? Hat da jemand eine alte Rechnung beglichen? Vielleicht war es auch schlicht ein Raubüberfall. Seine Brieftasche war leer geräumt, aber die Kreditkarten noch da. Schon seltsam, nicht wahr?« Er schwieg einen Moment, bevor er fragte: »Und Ihr Interesse an dem Fall? Woher kommt das?«
»Murphy hatte am Rande mit einem Fall zu tun, den ich recherchiere.« Ich überlegte mir genau, was ich sagte.
»Einer unserer Kommissare hat jeden Klienten unter die Lupe genommen, den er je hatte, der hat sich jeden, wirklich jeden Fall angesehen, an dem Murphy irgendwann einmal gearbeitet hatte. Für welchen interessieren Sie sich?«
»Ashley Freeman«, erklärte ich vorsichtig.
Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich interessant. Ich hätte gedacht, da ist nicht viel zu holen. Das war einer seiner kleineren Jobs, in den er vielleicht ein paar Tage investiert hat, nicht mehr. Und soviel ich weiß, einige Zeit vor seiner Ermordung zu Ende gebracht hat. Nein, der Mann, der Murphy erledigt hat, gehörte entweder zu einem der Drogenringe, die er in seiner Zeit bei der Polizei mit hochgehen lassen hat, oder es war einer von den Typen im organisierten Verbrechen, dem er als Privatdetektiv auf der Spur war. Oder auch einer der Polizisten, die in unschönen Scheidungsverfahren steckten. Das sind alles geeignetere Tatverdächtige.«
Ich nickte.
»Aber wissen Sie, was mich an diesem Fall wirklich fasziniert?«
»Was denn?«, fragte ich.
»Als wir anfingen, unter jedem Stein und hinter jedem Vorhang nachzusehen, kam es uns so vor, als hätte uns jeder, den wir befragten, irgendwie erwartet.«
»Erwartet? Aber was ist daran so ungewöhnlich?«
Der Hauptkommissar lächelte erneut. »Murphy hat sich immer sehr um Vertraulichkeit bemüht. Schließlich liegt das in der Natur seines Gewerbes. Er behielt alles für sich. Er war verschwiegen. Gab nichts preis, ließ sich nicht in die Karten schauen. Die einzige Person, die auch nur eine vage Ahnung davon hatte, womit er seine Tage zubrachte, war seine Sekretärin. Sie erledigte den ganzen Schriftverkehr, die Rechnungen sowie Aktenführung.«
»Und die konnte Ihnen nicht weiterhelfen?«
»Sie hatte keine Ahnung. Nicht den blassesten Schimmer. Aber darum ging es gar nicht.«
Er schwieg und sah mich eindringlich an, bevor er fortfuhr.
»Wie konnten also all diese Leute
wissen
, dass wir uns mit ihnen befassten? Sicher konnten einige Zielpersonen, auf die er angesetzt war, gar nicht anders, als früher oder später zu merken, dasser in ihrem Leben herumschnüffelte. Aber das galt sicher nur für einen relativ
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