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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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tauchten U-Bahnen voller Pendler aus ihren Schächten auf. O’Connell hatte das Gefühl, als sei er der Einzige, der stillstand und sich die Zeit nehmen konnte, sich ganzund gar auf das Dilemma zu konzentrieren, mit dem er sich konfrontiert sah.
    Eigentlich sind es zwei, dachte er.
    Ashley.
    Und der ehemalige Cop Murphy.
    Ihm war klar, dass der Weg zu Ashley entweder über Scott oder über Sally führte. Er musste nur herausfinden, über wen von beiden, und er war zuversichtlich, dass ihm das gelingen würde. Dabei stand ihm allerdings der Ex-Cop im Wege. Der war ein ernstes Problem. Er leckte sich die Lippen, schmeckte immer noch das Blut auf der Zunge, spürte die Schwellung, wo er ihn geschlagen hatte. Doch die blauen Flecke und Striemen verblassten schneller als seine Erinnerung. Sobald sich O’Connell auch nur in die Nähe der Eltern wagte, würden sie den Privatdetektiv auf ihn hetzen, und er konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie gefährlich der ihm werden mochte. Wahrscheinlich nicht ganz so schlimm, wie er ihm angedroht hatte. O’Connell rief sich eine simple Tatsache ins Gedächtnis: Hinsichtlich Ashley und ihrer Familie musste er derjenige sein, der die Macht besaß. Falls Gewalt unumgänglich war, dann musste sie von ihm ausgehen. Murphy brachte diesen Grundsatz ins Wanken, und das gefiel ihm nicht.
    Er streckte die Hände aus und hielt sich an der reich verzierten Betonbalustrade fest. Wut war wie eine Droge, die ihn in Wellen überschwemmte und alles, was er sah, in ein Kaleidoskop der Emotionen verwandelte. Einen Augenblick lang starrte er auf den dunklen Fluss zu seinen Füßen und bezweifelte, dass die eiskalte Wassertemperatur dicht am Gefrierpunkt ihn hätte abkühlen können. Er atmete langsam aus, um seinen Zorn in den Griff zu bekommen. Es gefiel ihm, wenn er rotsah, doch es durfte nicht zu seinem eigenen Schaden sein. Er schärfte sich ein: Konzentrier dich, raste nicht aus.
    Ganz oben auf seiner Tagesordnung stand die Aufgabe, Murphy von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
    Das war vermutlich nicht weiter schwierig. Vielleicht ein bisschen riskant, aber nicht unmöglich. Nicht so leicht wie das, was er mit ein paar Hieben via Computer gegen Scott und Sally und Hope ausgerichtet hatte, damit sie begriffen, mit wem sie es zu tun hatten. Aber auf keinen Fall außerhalb seiner Reichweite.
    Michael O’Connell blickte übers Wasser und sah, wie eine der Rudermannschaften eine Pause einlegte. Der Bootsrumpf hatte so viel Schwung, dass er weiter durchs Wasser glitt, während die Männer sich entspannt über ihre Ruder beugten und die Blätter im Wasser hinter sich herzogen. Er fand es schön, wie das Boot sozusagen durch die Erinnerung an die Muskelkraft der Mannschaft von selbst weiterschwamm. Es schnitt wie eine Rasierklinge in den Fluss – ähnlich wie er selbst.
     
    Er verbrachte einen großen Teil des Tages und den frühen Abend damit, vor dem Gebäude, in dem Murphy seine Detektei unterhielt, Wache zu halten. Als er es zum ersten Mal vor Augen hatte, war er hocherfreut gewesen, denn es war ein schäbiger Bau ohne die üblichen modernen Sicherheitsvorkehrungen, die ihm sein Vorhaben erschwert hätten. O’Connell grinste.
    Spätestens von nun an sollte er sich dies zur ersten Regel machen, dachte er: Wende die Schwäche der anderen immer zu deiner Stärke.
    Er hatte sich drei verschiedene Stellen für seine Überwachung ausgesucht. Seinen Wagen, etwa in der Mitte des Häuserblocks geparkt; einen spanischen Lebensmittelladen an der Ecke und einen Lesesaal der Christian Science fast unmittelbar gegenüber dem Gebäude. Einen einzigen kritischen Moment hattees gegeben, als er letzteren Posten verließ und Murphy just in dem Moment aus der Haustür trat.
    Wie jeder Ermittler besaß er einen ausgeprägten Sicherheitsinstinkt und hatte sofort nach rechts und nach links sowie auf die andere Straßenseite gespäht. O’Connell hatte eine Sekunde lang die kalte Angst gepackt, dass er ihn entdeckt haben könnte.
    Im selben Moment hatte er gewusst, dass Murphy ihn erkennen würde, falls er versucht hätte, sich zu verstecken oder wegzuducken.
    Also hatte er sich gezwungen, einfach die Straße entlangzuschlendern. Er hatte lediglich die Schultern ein wenig eingezogen und das Gesicht kaum merklich weggedreht, damit sein Profil nicht zu sehen war, und sich nicht ein einziges Mal umgedreht, sondern nur seinen Kragen schützend hochgeschlagen, bis er die Tür zur Bodega erreichte. Kaum war er drinnen,

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