Das Opfer
verschlimmert, indem wir dachten, wir hätten es mit einem vernünftigem Menschen zu tun. Also, mag sein, dass du anfangs etwas falsch gemacht hast, Ashley, aber O’Connell hat es geschafft, uns schnell mit reinzuziehen, und wir müssen uns alle vorwerfen lassen, unterschätzt zu haben, wozu der Mann fähig ist. Vorhaltungen und Schuldzuweisungen bringen herzlich wenig. Deine Mutter hat recht. Jetzt kann es einzig und allein darum gehen, was wir als Nächstes unternehmen.«
»Ich glaube, Scott«, sagte Hope langsam, »das trifft es nicht ganz.«
Er sah sie an. »Wie meinst du das?«
»Die Frage lautet wohl eher, wie weit wollen wir gehen?«
Es herrschte Schweigen im Raum.
»Denn«, fuhr Hope fort, und obwohl sie in ruhigem Ton sprach, schwang so etwas wie Autorität in ihren Worten mit, »wir haben keine rechte Vorstellung davon, wozu O’Con nell bereit ist. Es gibt einige Anhaltspunkte dafür, dass er vor nichts und niemandem zurückschreckt. Aber wo liegen seine Grenzen? Kennt er überhaupt welche? Ich denke, wir gehen besser davon aus, dass er keine Hemmungen kennt.«
»Ich wünschte, ich hätte …«, rutschte es Catherine heraus, ohne den Satz zu Ende zu sprechen. »Nun ja«, schloss sie kurz und bündig, »Scott weiß, was ich meine.«
»Ich denke«, schaltete Sally sich ein, »es ist an der Zeit, auch juristisch gegen ihn vorzugehen.«
»Na ja, das hat unser Mann von der Polizei nach meinem kleinen Plausch mit Mr. O’Connell auch gemeint«, bemerkte Catherine trocken.
»Du scheinst nicht viel davon zu halten«, sagte Hope.
»Ganz richtig.« Leise fügte sie hinzu: »Wann hat der Staat schon mal geholfen, wenn es darauf ankam?«
Scott wandte sich an Sally. »Du bist die Anwältin. Du hast zweifellos beruflich bereits mit solchen Problemen zu tun gehabt. Wie müssen wir vorgehen? Was dürften wir erwarten?« Sally schwieg und spielte im Kopf verschiedene Möglichkeiten durch, bevor sie antwortete.
»Ashley müsste vor Gericht gehen. Ich könnte zwar den Papierkram übernehmen, aber es ist immer ratsamer, sich einen neutralen Rechtsbeistand zu suchen. Sie müsste eine Aussage machen, dass sie ein Opfer von Stalking – von beharrlicher Nachstellung – ist, dass sie um ihr seelisches und leibliches Wohl fürchten muss. Sie wird wahrscheinlich beweisen müssen, dass bei O’Connell ein systematisches Verhaltensmuster vorliegt, doch die meisten Richter zeigen viel Verständnis und sind bereit, auch ohne allzu viel Bestätigung von dritter Seite der Sache Glauben zu schenken. Dann erlässt der Richter eine einstweilige Verfügung, die der Polizei die Handhabe gibt, O’Connell zu verhaften, sobald er sich ihr auf eine bestimmte Distanz nähert – gewöhnlich werden dreißig bis hundert Meter festgesetzt. Darüber hinaus würde der Richter verfügen, dass O’Connell keinerlei Kontakt mit ihr aufnehmen darf, weder telefonisch noch über den Computer. Diese Verfügungen sind im Allgemeinen ziemlich umfassend und würden praktisch bedeuten, dass er aus Ashleys Leben verschwindet, vorausgesetzt – das allerdings ist das große Fragezeichen.«
»Was denn?«, hakte Ashley nach.
»Vorausgesetzt, er hält sich an die Verfügung.«
»Und wenn nicht?«
»Na ja, dann kann die Polizei eingreifen. Theoretisch könnte er wegen des Verstoßes in Haft genommen werden. Damit wäre er für eine Weile aus dem Verkehr gezogen; das gängige Strafmaß ist ein halbes Jahr. Allerdings nur, wenn der Richter das Höchstmaß ansetzt. In der Praxis gibt es da eine Menge Kompromisse. Die Richter bringen jemanden nicht gerne für etwas hinter Gitter, was in ihren Augen oft nichts weiter als eine Familienstreitigkeit ist.«
Sally holte tief Luft. »So sollte es theoretisch laufen. In der Realität gehen die Dinge nie so glatt.«
Sie sah sich in der Runde um. »Ashley erstattet Anzeige und sagt vor Gericht aus. Aber was können wir schon wirklich beweisen? Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, dass er sie den Job gekostet hat. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, dass er hinter dem ganzen Ärger steckt, den wir alle hatten. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, dass er hier eingebrochen ist. Wir können ihm nicht beweisen, dass er Murphy umgebracht hat, auch wenn er es möglicherweise gewesen ist.«
Sally atmete nochmals tief ein. Die anderen blieben vollkommen still.
»Ich hab darüber nachgedacht«, fuhr sie fort, »und das ist weiß Gott nicht die offensichtlichste Option. Ganz bestimmt nicht. Ich möchte wetten,
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