Das Opfer
mitten in einer furiosen Auseinandersetzung, obwohl niemand außer ihr selbst ihre Worte hören konnte, die in ihrem Kopf widerhallten. Oben schlief Ashley noch, doch Sally hatte vor, sie bald zu wecken. Hope und Catherine machten draußen einen Spaziergang,um irgendwo in einem Restaurant etwas zum Abendessen zu besorgen. Höchstwahrscheinlich diskutierten sie, in was sie da hineingeraten waren. Sie war als Wachposten zurückgeblieben.
Sally fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie befanden sich an einem Scheideweg, ohne dass sie deutlich sehen konnte, worin ihre Wahl bestand.
Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Ich hab alles vermasselt, dachte sie. Ich hab alles verpfuscht.
Sie seufzte und ging zu ihrem Schreibtisch, auf dem sie alte Sammelalben und Fotos sowie andere Andenken aufbewahrte, die zu schade zum Wegwerfen, aber nicht gut genug zum Rahmen waren. Sie öffnete eine große Schublade und wühlte in den Stapeln, bis sie fand, was sie suchte: ein Bild von ihrem Vater und ihrer Mutter. Sie waren beide viel zu jung gestorben, der eine bei einem Unfall, die andere an einem Herzleiden. Sally konnte nicht sagen, wieso sie jetzt das Bedürfnis hatte, die Fotos hervorzuholen, doch sie war von dem Wunsch, ihnen in die Augen zu schauen und ihren Blick auf sich gerichtet zu sehen, beinahe überwältigt. Als könnten die beiden sie beruhigen. Sie hatten sie zurückgelassen, und sie hatte sich – trotz ihrer Zweifel darüber, wer sie war und was aus ihr einmal werden würde – an Scott geklammert, weil sie ihn für verlässlich hielt. Wahrscheinlich hatte derselbe Instinkt sie zum Jurastudium getrieben: der eiserne Wille, nie wieder Opfer der Ereignisse zu sein. Bei diesem Gedanken schüttelte sie den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, wie albern die Vorstellung war. Jeder konnte zum Opfer werden. Jederzeit.
Als dieser widerwärtige Gedanke sich bei ihr einnistete, hörte sie Ashley im oberen Stockwerk.
Sie holte tief Luft. Eines bleibt allerdings wahr: Eine Mutter tut alles, um ihr Kind zu schützen.
»Ashley, bist du das? Bist du auf?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann kam die Antwort nach einem gedehnten Stöhnen. »Ja. Hi, Mom. Ich komm runter, ich putz mir nur noch die Zähne.«
Sie wollte gerade antworten, als das Telefon klingelte.
Das Geräusch lief ihr eiskalt über den Rücken.
Sie sah auf die Anruferkennung, doch da stand nur
privater Anrufer
.
Sally griff nach dem Telefon und biss sich auf die Lippe.
»Ja, wer spricht da bitte?«, sagte sie und legte so viel Anwaltsfrostigkeit in ihre Stimme, wie sie konnte.
Es kam keine Antwort.
»Wer ist da!«, fragte sie in scharfem Ton.
Es blieb still in der Leitung. Sie hörte nicht einmal jemanden atmen.
»Verflucht noch mal, lassen Sie uns in Frieden!«, flüsterte sie. Ihre Worte drangen wie Nägel in die Stille, und sie knallte das Telefon auf den Sockel.
»Mom? Wer war das?«, rief Ashley von oben. Sally hörte, wie die Stimme ihrer Tochter einen Moment lang zitterte.
»Ach, nichts«, rief sie. »Nur so ein blöder Werbeanruf, für Zeitschriftenabos.« Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, fragte sie sich, wieso sie es nicht fertiggebracht hatte, die Wahrheit zu sagen. »Kommst du runter?«
»Ja, gleich.« Sally hörte, wie die Tür zum Schlafzimmer zufiel. Sie nahm das Telefon und wählte die 69. Augenblicklich ertönte eine Ansage: »Die Nummer 413-555-0987 gehört zu einem Münztelefon in Greenfield, Massachusetts.«
Dicht dran, dachte sie. Keine Stunde Fahrt.
Als Michael O’Connell das Münztelefon einhängte, war sein erster Impuls, Richtung Süden zu fahren, wo Ashley, wie erwusste, auf ihn wartete, und die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Jedes Wort, das er von Sally gehört hatte, sagte ihm, wie geschwächt sie war. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und stellte sich Ashley vor. Er fühlte, wie ihm das Blut in Wallung kam, als stünde jede Ader und jede Vene unter Strom. Er atmete in flachen Zügen ein, wie ein Schwimmer, der hyperventiliert, bevor er ins Wasser springt.
Sie
rechnen damit, sagte er sich, dass er ihnen nach Hause folgte.
Sie
werden vorbereitet sein, überlegte er. Einen Plan aushecken, damit er nicht nahe an sie herankam. Verteidigungs linien, Mauern aufrichten. Sie können mich nicht schlagen.
Das war die einfachste, offensichtlichste, unbestreitbare Wahrheit.
Wieder atmete er ein.
Sie
werden denken, ich wäre zu ihnen unterwegs.
Aber wozu die Eile?
Sollen
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