Das Opfer
ihr immer klarer, dass der Schuss als solcher weniger entscheidend war als die nachträgliche Wirkung. Wie eine eifrige Studentin, der während der Examensprüfung plötzlich die richtigen Antworten einfallen, arbeitete sie sich in umgekehrter Reihenfolge durch das Verbrechen.
Erfinde einen Mord, sagte sie sich.
Sie hielt sich die Hand vors Gesicht. Wir sind dabei, das zu werden, was wir immer gehasst haben, dachte sie. Langsam ballte sie die Hand zur Faust, nur dass es sich für sie anfühlte, als legte sie die Finger um O’Connells Hals. Sie spürte förmlich, wie ihm die Luft ausging und er von einem Moment zum anderen unter ihrem Würgegriff erstickte.
Es war spät geworden, und ich stand unschlüssig in der Haustür. Man hört etwas. Jemand hat einem eine Geschichte erzählt. Worte im Flüsterton. Und mit einem Schlag kommt es einem so vor, alswürde es zwangsläufig immer mehr Fragen als Antworten geben. Sie musste das irgendwie gespürt haben, denn sie sagte: »Ah nen Sie jetzt, weshalb sie davor zurückschrecken, mit Ihnen zu reden?«
»Ja«, antwortete ich. »Natürlich. Sie wollen keine Strafanzeige riskieren. Mord verjährt nicht.«
Sie schnaubte. »Das versteht sich von selbst. Und zwar von Anfang an. Sie müssen versuchen, über die offensichtlichsten praktischen Erwägungen hinauszuschauen.«
»Na schön, weil der Verrat, um den es hier auch geht, sie erschreckt.«
Sie schnappte nach Luft, so als hätte sie vor etwas Angst. »Und worin, bitte schön, besteht dieser Verrat, wie Sie es so elegant formulieren?«
Ich überlegte einen Moment. »Sally hatte Jura studiert, sie hätte mehr Respekt vor der Kraft des Gesetzes haben sollen.«
»Ja, ja«, räumte sie ein und nickte. »Sie stand im Dienste des Gesetzes. Aber sie konnte in diesem Fall nur die Unzulänglichkeiten des Gesetzes sehen, nicht seine Stärken. Fahren Sie fort.«
»Und Scott, nun ja, er war Geschichtsprofessor. Mehr als irgendjemand sonst hätte er sehen müssen, wie gefährlich es ist, einseitig zu handeln. Er hätte sich einen Sinn für die soziale Gerechtigkeit bewahren müssen.«
»Ein Mann, der Gewalt verabscheute und plötzlich zu diesem Mittel griff?«, fragte sie.
»Ja. Selbst als er sich in jungen Jahren zum Kriegsdienst meldete, war das eher so etwas wie ein politischer Akt oder eine Gewissensentscheidung als ein Hurra-Patriotismus gewesen. Nur so ist es ihm gelungen, sich die Hände nicht oder kaum schmutzig zu machen. Aber Hope …«
»Was ist mit Hope?«, fragte sie prompt.
»Ich hab das Gefühl, dass man bei den dreien, wie soll ich sagen,von ihr am wenigsten erwarten würde, sich auf etwas Kriminelles einzulassen. Schließlich war sie am wenigsten involviert.«
»Meinen Sie? Stand für sie nicht mehr auf dem Spiel als für die anderen? Eine Frau, die eine andere Frau liebt und die ganze gesellschaftliche Last auf sich nimmt, die das mit sich bringt? Hat sie nicht aus Liebe das größte Risiko auf sich genommen? Hatte sie es nicht aufgegeben, eine eigene Familie zu gründen, sich der Welt als ›normal‹ zu präsentieren, und deshalb Ashley quasi als ihr eigenes Kind adoptiert? Erkannte sie in ihr einen Teil von sich selbst? Ein Leben, das ihr vielleicht auch einmal offengestanden hatte? Hat sie Ashley beneidet, geliebt, hat sie sich mit ihr auf eine so tiefe Weise verbunden gefühlt, dass es mit dem, was wir natürlicherweise von einer Mutter oder einem Vater erwarten, wenig zu tun hat? Und liegt es nicht nahe, dass sie als die Athletin, die sie schließlich war, dazu neigen würde, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?«
Ihr plötzlicher Wortschwall erdrückte mich so wie das Dunkel der Nacht.
»Ja«, gab ich zu, »das kann ich nachvollziehen.«
»Hope hatte in ihrem ganzen Leben nie das Risiko gescheut, sie war immer ihrem Instinkt gefolgt. Das machte ihre Schönheit aus.«
»Von der Seite hatte ich es nicht gesehen.«
»Meinen Sie nicht, dass Hope in gewisser Hinsicht der Schlüssel zu allem war?«
Ich schüttelte, wenn auch kaum merklich, den Kopf. »Ja und nein.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte sie.
»Der Schlüssel war von Anfang bis Ende Ashley.«
40
Ein Wettlauf durch die Schatten der Dunkelheit
Ashley stemmte sich gegen das Kopfbrett ihres Bettes und stützte die Füße auf das Fußende. Sie hielt die Spannung so lange, bis ihr vor Anstrengung die Muskeln zitterten. Als Teenager hatte sie das immer gemacht, wenn ihr Körper sich selbst davonzurennen drohte und sie
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