Das Opfer
unter ständigem »Wachsweh« litt, so als passten ihre Knochen nicht mehr in ihre Haut. Sport, hartes Lauftraining am Nachmittag unter Hopes Aufsicht, hatte geholfen, doch viele Nächte lang hatte sie sich im Bett hin und her geworfen und darauf gewartet, dass ihr Körper endlich ausgewachsen war.
Es war noch früh, und so drangen gelegentliche Schlafgeräusche durchs Haus. Im Nachbarzimmer schnarchte Catherine laut. Von Sally und Hope war nichts zu vernehmen, auch wenn sie die beiden letzte Nacht noch lange hatte reden hören. Es war zu leise gewesen, um etwas zu verstehen, doch sie vermutete, dass es etwas mit ihr zu tun hatte. Schon lange hatte sie keine gedämpften, zärtlichen Worte mehr gehört, und das machte ihr zu schaffen. Sie wollte unbedingt, dass ihre Mutter mit Hope zusammenblieb, doch Sally wirkte seit einigen Jahren so distanziert, dass sie nicht sicher war, wie es weitergehen würde. Manchmal glaubte sie, dass sie mit dem Scherbenhaufen einer weiteren Scheidung nicht zurechtkäme, selbst wennsie als Freunde auseinandergingen. Aus Erfahrung wusste sie, dass eine »einvernehmliche Trennung« mehr oder weniger mit denselben inneren Qualen einherging.
Einen Moment lang horchte Ashley, dann ließ sie es zu, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Nameless hatte immer am Ende des Flurs direkt vor der Tür zum Schlafzimmer von Sally und Hope auf einem zerschlissenen Hundelager geschlafen, damit er in Hopes Nähe war. Doch als Ashley noch klein war, hatte er nicht selten mit unnachahmlichem Hundeinstinkt gespürt, wenn sie Kummer hatte. Dann hatte er mit der Schnauze die Tür geöffnet und es sich ohne großes Aufhebens auf dem Teppich vor der Kommode bequem gemacht. Er hatte sie so lange angesehen, bis sie ihm erzählte, was sie bedrückte. Es war, als könnte sie sich selbst beruhigen, indem sie den Hund beruhigte.
Ashley biss sich auf die Lippe. Allein dafür, was er Nameless angetan hat, könnte ich ihn eigenhändig erschießen.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Einen Moment lang ließ sie den Blick langsam über die vertraute Umgebung aus ihrer Kindheit schweifen. An einer Wand hingen rund um ein aufgezogenes Poster Dutzende ihrer eigenen Zeichnungen. Dazwischen Schnappschüsse von ihren Freunden, von ihr selbst im Halloween-Kostüm, auf dem Fußballplatz und in voller Robe vor dem Abschlussball. Dann eine bunte Flagge mit dem Wort FRIEDEN in der Mitte über einer eingestickten weißen Taube. Eine leere Champagnerflasche mit zwei Papierblumen darin erinnerte an die Nacht in ihrem ersten Jahr am College, in der sie entjungfert wurde, ein Ereignis, in das sie Hope eingeweiht hatte, nicht aber ihre Eltern. Sie atmete langsam aus und musste unwillkürlich denken, dass all diese Dinge ihr sagten, wer sie einmal gewesen war, während sie eine Vorstellung davon bekommen wollte, was aus ihrwerden würde. Sie ging zu der Schultertasche, die am Türknauf ihres Einbauschranks hing, griff hinein und zog den Revolver heraus.
Ashley nahm ihn, drehte sich um und ging in Anschlag. Sie zielte aufs Bett. Langsam, ein Auge geschlossen, drehte sie sich um die Achse und richtete die Waffe aufs Fenster. Alle sechs Schuss auf einmal feuern, schärfte sie sich ein. Auf die Brust zielen. Nicht am Abzug ruckeln. So wenig wie möglich wackeln.
Sie kam sich ein bisschen albern vor.
Er wird nicht stillstehen, überlegte sie. Vielleicht stürzt er auf dich zu, um es kurz zu machen. Sie nahm wieder ihre Stellung ein, grätschte die nackten Füße am Boden, ging ein wenig in die Knie. In Gedanken nahm sie Maß. Wie groß war O’Connell? Wie stark? Wie schnell würde er laufen? Würde er um sein Leben betteln? Würde er ihr versprechen, sie in Ruhe zu lassen?
Schieß ihm gefälligst ins Herz, falls er eins hat.
»Peng«, flüsterte sie. »Peng, peng, peng, peng, peng.«
Sie ließ den Revolver sinken.
»Du bist tot und ich am Leben. Und mein Leben kann weitergehen«, sagte sie so leise, dass die anderen, egal wie unruhig sie schliefen, sie nicht hören konnten. »Es mag noch so mies sein, aber immer noch besser als das hier.«
Die Pistole fest im Griff, trat sie neben das Fenster. Hinter den Gardinen versteckt, spähte sie links und rechts die Straße entlang. Es dämmerte, so dass die Häuser gerade erst langsam Gestalt annahmen. Es war kalt, schätzte sie. Wahrscheinlich lag Raureif auf den Rasenflächen. Zu kalt, als dass O’Connell die Nacht über da draußen Wache gehalten haben könnte.
Sie
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