Das Opfer
nippte an einer großen Tasse Kaffee. Hätte sie richtig hingesehen, dann hätte sie ihn wohl entdeckt, denn er gab sich nicht besonders Mühe, sich zu verstecken. Er wartete nur. Er hatte überlegt, ob er sie beim Joggen anhalten sollte, den Gedanken aber verworfen. Wenn er sie so überraschte, geriet sie vielleicht in Panik, und sie hätte ihm allzu leicht entwischen können. Immerhin war sie mit den Nebenstraßen und Gärten des Viertels viel besser vertraut, und so schnell er auch war, hätte er nicht mit Sicherheit sagen können, ob er sie eingeholt hätte. Vor allem aber hätte sie schreien können und damit die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich gelenkt, so dass jemand vielleicht die Polizei gerufen hätte. Falls sie eine Szene gemacht hätte, dann hätte er sich verziehen müssen, bevor er Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen. Was er am wenigsten brauchen konnte, war ein skeptischer Polizist, dem er erklären sollte, was er hier zu suchen hatte.
Er musste vielmehr den richtigen Moment abwarten. Nicht hier, nicht auf der Straße, in dem Viertel, in dem sie aufgewachsenwar. Hier schwang ihre Vergangenheit mit. Er dagegen war ihre Zukunft.
Viel leichter war es, ihren Anblick in sich aufzusaugen. Besonders gefiel es ihm, ihre Beine beim Laufen zu betrachten. Sie waren lang und geschmeidig, und er wünschte sich, er hätte in ihrer einzigen Nacht stärker darauf geachtet. Dennoch hatte er sie nackt und schimmernd vor Augen, und er wechselte die Stellung, als er in einer Woge die ersten Anzeichen sexueller Erregung spürte. Er wünschte, Ashley würde ihre Strickmütze herunternehmen, damit er ihr Haar sehen konnte, und als er wieder aufsah und sie genau das tat, schmunzelte er und fragte sich, ob er ihr auf telepathischem Wege alle möglichen unterschwelligen Botschaften schicken konnte. Es machte ihm nur umso deutlicher, wie stark sie miteinander verbunden waren. Michael O’Connell lachte laut.
Er brauchte Ashley nur von ferne zu sehen, und schon durchströmte es warm seinen ganzen Körper. Es war, als übertrüge sie ihm ihre Energie. Unter dem Ansturm der Leidenschaft wurde es ihm unmöglich, länger stillzusitzen, und er öffnete die Tür.
Nicht weit vor ihm drehte Ashley sich im selben Moment um und trat, ohne ihn zu sehen, erfüllt von Verzweiflung ins Haus.
Michael O’Connell erhob sich, halb im Wagen, ein Bein auf der Straße und starrte auf die Stelle, an der Ashley eben gestanden hatte. In seiner Phantasie sah er sie immer noch.
Schnapp sie dir, sagte eine Stimme in seinem Innern.
Doch das erschien ihm zu einfach.
Er lächelte. Er musste sie nur allein erwischen, allerdings allein in seiner Welt, nicht ihrer.
Ich bin unsichtbar, dachte er, als er wieder hinters Lenkrad sackte und vom Bordstein fuhr.
Doch da irrte er. Im Schlafzimmer stand Sally am Fenster und sah hinaus. Sie packte die Fensterbank so fest, dass sich ihre Fingerknöchel verfärbten, und grub die Nägel so tief ins Holz, dass sie fürchtete, es zu zerbrechen. Es war das erste Mal, dass sie Michael O’Connell leibhaftig zu sehen bekam. Als sie die Gestalt hinterm Lenkrad des Wagens das erste Mal entdeckte, hatte sie sich eingeredet, das sei nicht der, für den sie ihn hielt, dabei aber sofort gewusst, dass sie sich etwas vormachte. Es konnte nur er sein. Er war so nah wie eh und je, knapp außerhalb ihrer Reichweite, und beschattete Ashley auf Schritt und Tritt. Selbst wenn sie ihn nicht sah, war er da. Sie fühlte sich benommen, erbost und von einer Panikattacke fast überwältigt. Liebe ist Hass, dachte sie. Liebe ist böse. Liebe ist falsch.
Sie sah dem Wagen hinterher.
Liebe ist Tod, dachte sie.
Keuchend wandte sie sich vom Fenster ab. Zuerst wollte sie allen sagen, dass sie gerade Michael O’Connell gesehen hatte, wie er nur wenige Meter von ihrer Haustür entfernt Ashley hinterherspionierte, doch dann überlegte sie es sich anders. Wer wütend ist, handelt unbesonnen. Wir müssen die Ruhe bewahren. Wir müssen klug sein. Organisiert. An die Arbeit. An die Arbeit. An die Arbeit. Sie drehte sich um und sah den Block mit ihren Notizen. Notizen zu einem Mord. Als sie den Bleistift zur Hand nahm, merkte sie allerdings, dass sie ein wenig zitterte.
Am späten Nachmittag machte sich Sally auf den Weg, um Dinge einzukaufen, die sie bei ihrem Vorhaben für unverzichtbar hielt. Erst am frühen Abend kam sie zurück, schaute kurz bei Ashley herein, die seltsam gelangweilt auf ihrem Bett eingerollt lag und las, und
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