Das Opfer
nickte und steckte die Waffe wieder in ihre Tasche. Dann zog sie eilig eine Jogginghose, einen schwarzen Rolli und einKapuzensweatshirt aus der Kommode und schnappte sich ihre Joggingschuhe. Sie glaubte nicht, dass sie in den nächsten Tagen viel Gelegenheit haben würde, allein zu sein, und jetzt hatte sie die Chance. Als sie sich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schlich, fiel es ihr ein wenig schwer, die Pistole zurückzulassen. Aber schließlich konnte sie mit dem Ding nicht laufen. Zu schwer und zu verrückt.
Es lag kanadische Kälte in der Luft, die es über Vermont hinaus geschafft hatte. Sie ließ leise die Haustür zuschnappen und zog sich eine Strickmütze über die Ohren, dann rannte sie los, um auf der Straße zu sein, bevor jemand ihr das kleine Vergnügen ausreden konnte. Ashley lief schnell, damit ihr Herz das Blut in die kalten Finger pumpte, und mit jedem Meter ließ sie den Gedanken an das Risiko und bald auch die Kälte hinter sich.
Ashley lief zügig, im Takt mit ihren Gedanken, wobei das Trommeln ihrer Füße ihre Wut in eine Art Jogging-Poesie verwandelte. Sie war es so leid, von ihrer Familie und ihrer eigenen Angst bedrängt, herumkommandiert und eingesperrt zu werden, dass sie darauf bestand, sich auf das Abenteuer einzulassen. Natürlich darfst du es ihm nicht extra leichtmachen, sagte sie sich und nahm einen unvorhersehbaren Zickzackkurs.
Was sie dringend nötig hatte, war der Luxus, spontan zu handeln.
Aus drei Meilen wurden vier, dann fünf, und der wilde frühmorgendliche Aufbruch mündete in einen stetigen Rhythmus, der, so hoffte sie, zu ihrer Sicherheit beitrug. Der Wind war nicht mehr so kalt und drang ihr nicht mehr stechend in die Lungen. Sie spürte den Schweiß im Nacken, und als sie kehrtmachte, um den Heimweg anzutreten, fühlte sie sich ein wenig erschöpft, wenn auch nicht so sehr, dass sie ihr Tempo gedrosselthätte. Stattdessen wurde ihr ein unbehagliches Gefühl, eine seltsame Unruhe bewusst. Sie blickte aufmerksam nach vorne und sah plötzlich, wie sich etwas bewegte. Sie hätte schwören können, dass sie nicht mehr alleine war. Sie schüttelte den Kopf und rannte weiter.
Etwa acht Straßen von ihrem Haus entfernt schoss ein Wagen gefährlich nah an ihr vorbei. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus und wollte einen Kraftausdruck hinterherschicken, lief jedoch weiter.
Sechs Straßen von ihrem Haus entfernt rief jemand deutlich ihren Namen. Sie konnte nicht sagen, ob sie sich dies nur eingebildet hatte, und sie drehte sich auch nicht um, sondern lief nur umso schneller.
Vier Straßen von zu Hause entfernt hupte jemand in ihrer Nähe. Bei dem Geräusch zuckte sie heftig zusammen und legte einen Sprint ein.
Zwei Straßen von daheim hörte sie hinter sich plötzlich Reifen quietschen. Sie schnappte nach Luft, drehte sich aber auch diesmal nicht um, sondern wechselte nur von der Straße auf den Bürgersteig, der von den Wurzeln der Bäume aufgebrochen und wellig war wie das Meer kurz vor einem Sturm. Der Zementboden schien nach ihren Knöcheln zu schnappen, und ihre Füße beklagten sich über das schwierige Gelände. Sie legte noch einmal Tempo zu. Sie hätte am liebsten die Augen geschlossen und versuchte mit aller Macht, sich gegen Geräusche abzuschotten. Da das unmöglich war, fing sie an, vor sich hin zu summen. Dabei hielt sie wie ein Rennpferd mit Scheuklappen den Blick konzentriert nach vorne gerichtet, um schnellstens nach Hause zu kommen. Sie sprang über ein Blumenbeet, schoss quer über den Rasen und wäre beinahe gegen die Haustür geprallt. Erst dann drehte sie sich langsam um.
Sie starrte in beide Richtungen der Straße. Sie sah einen Mannaus seiner Einfahrt fahren. Ein paar lachende Kinder mit prall gefüllten Rucksäcken, die zum Schulbus liefen. Eine Frau in einem langen, leuchtend grünen Mantel, den sie sich über das Nachthemd geworfen hatte, bückte sich nach der Zeitung.
Kein O’Connell. Jedenfalls nicht, so weit sie sehen konnte.
Sie legte den Kopf zurück und atmete in kurzen Zügen die kalte Morgenluft ein. Noch einmal ließ sie den Blick über die vorstädtische Alltagsnormalität schweifen und schluckte schwer. In diesem Moment wurde ihr klar, dass er nicht mehr tatsächlich da sein musste, um präsent zu sein.
Von seinem Beobachtungsposten ein Stück die Straße hinunter weidete sich Michael O’Connell an Ashley, wie sie unschlüssig auf den Eingangsstufen zum Haus ihrer Mutter stand. Er saß hinter dem Lenkrad seines Wagens und
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