Das Opfer
ist das unbewusste Ergebnis von traumatischen Erfahrungen und Deprivation. Folglich hat alles, was er uns angetan hat und was er Ashley vielleicht noch antun wird, eine Art moralische und emo tionale Basis. Es mag noch so unrecht sein, aber es gibt eine Erklärung dafür. Wir dagegen, also, ich will damit nur sagen, dass wirkaltblütig und egoistisch vorgehen müssen, ohne dass wir eine Entschuldigung für unser Verhalten hätten. Außer vielleicht einer.«
Hope und Scott hatten Sallys Ausführungen konzentriert zugehört. Sally war unruhig in ihrem Sessel herumgerutscht und hatte sich gewunden, als bereite ihr jedes Wort eine Qual, so frostig kalt sie ihr auch über die Lippen kommen mochten.
»Und die wäre?«, fragte Hope vorsichtig.
»Ashley wäre in Sicherheit.«
Wieder senkte sich die Stille über den Raum.
Sally schnappte hörbar nach Luft.
»Das heißt, unter einer entscheidenden Voraussetzung«, sagte sie fast im Flüsterton.
»Nämlich?«, fragte Scott.
»Dass wir uns nicht erwischen lassen.«
Es war Nacht geworden, und wir saßen auf zwei Adirondack-Gartenstühlen auf ihrer Terrasse. Harte Sitze für harte Gedanken. Bei mir hatten sich so viele Fragen aufgestaut, dass ich mehr denn je darauf aus war, mit den Hauptpersonen oder zumindest mit einer von ihnen zu sprechen, um mir von dem Augenblick ein Bild zu machen, in dem sie von Opfern zu Verschwörern wurden. Doch so wütend sie mich auch machte, ließ sie sich nicht überfahren, sondern starrte nur in die feuchte Sommernacht hinaus.
»Bemerkenswert, nicht wahr, wozu man bereit ist, wenn man in die Enge getrieben wird?«, sagte sie.
»Na ja«, antwortete ich vorsichtig, »mit dem Rücken zur Wand …«
Sie stieß ein freudloses Lachen aus. »Das ist es ja gerade«, meinte sie unvermittelt. »Sie glaubten, sie stünden mit dem Rücken zudieser sprichwörtlichen Wand. Aber wie kann man sich da sicher sein?«
»Ihre Ängste waren berechtigt. O’Connell stellte eine offensichtliche Bedrohung dar. Wissen konnten sie es natürlich letztlich nicht. So vor die Wahl gestellt, sich für eine von verschiedenen unbekannten Größen zu entscheiden, haben sie die Dinge selbst in die Hand genommen.«
Wieder lächelte sie. »Aus Ihrem Mund klingt es so einfach und überzeugend. Wieso sehen Sie es nicht mal von der anderen Seite?«
»Wie meinen Sie das?«
»Also, stellen Sie sich vor, Sie betrachteten das Problem aus Sicht der Polizei. Sie haben es mit einem jungen Mann zu tun, der sich verliebt hat und dem Mädchen seiner Träume nachstellt. Kommt alle Tage vor. Sie wissen so gut wie ich, dass er ein Stalker ist – aber was könnte ein Kriminalbeamter tatsächlich beweisen? Meinen Sie nicht auch, dass Michael O’Connell seine kleinen Computer-Attacken auf unsere Hauptpersonen so gut versteckt hatte, dass niemand sie bis zu ihm zurückverfolgen konnte? Und wie hatten sie reagiert? Mit einem Bestechungsversuch. Mit Drohungen. Sie haben ihn sogar zusammenschlagen lassen. Wenn Sie als Polizist mit dieser Situation konfrontiert wären, wer ließe sich wohl leichter vor Gericht bringen? Ich denke, Scott, Sally und sogar Hope. Sie haben schon an diesem Punkt gelogen; falsche Tatsachen vorgespiegelt. Selbst Ashley hat schon gegen das Gesetz verstoßen und diesen Revolver in ihren Besitz gebracht. Und nun planen sie gar einen Mord. An einem Unschuldigen. Aus psychologischer oder auch moralischer Sicht mag er nicht wirklich unschuldig gewesen sein, aber trotzdem … Und sie wollten sich nicht erwischen lassen. Welchen moralischen Ansprüchen hätten sie zu diesem Zeitpunkt noch genügt?«
Ich erwiderte nichts.
Mir schwirrten eigene Gedanken im Kopf herum. Wie hatten sie es geschafft?
»Erinnern Sie sich noch, von wem sie hören mussten, etwas zu sagen und es zu tun seien zweierlei Paar Schuhe? Wer hat ihnen klargemacht, wie schwer es ist, tatsächlich abzudrücken?«
Ich lächelte. »Ja, ich weiß. O’Connell.«
Sie lachte bitter. »Ja, das hat er zu der Unerschrockensten von ihnen gesagt, derjenigen, die am wenigsten zu verlieren gehabt hätte, wenn sie ihm eine Schrotladung in die Brust gejagt hätte – sie, die ihr Leben größtenteils schon hinter sich hatte und das geringste Risiko eingegangen wäre. In diesem entscheidenden Moment hat sie versagt, nicht wahr?«
Sie schwieg eine Weile und starrte in die Dunkelheit. »Einer von ihnen musste jedoch den Mut aufbringen.«
39
Der Beginn eines unvollkommenen Verbrechens
Sally meldete sich
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