Das Opfer
beiden Frauen schwiegen. Schon komisch, dachte Hope, dass dies seit Wochen die erste liebevolle Äußerung von Sally war.
Es klopfte an der Tür. »Das wird Scott sein«, sagte Sally. Sie sammelte ihre Papiere ein, während Hope zur Tür ging, um ihn hereinzulassen. In den ein, zwei Sekunden, in denen sie alleine war, legte sie den Kopf zurück und holte tief Luft.
Haben wir diese Sache erst in Gang gebracht, gibt es kein Zurück.
Catherine kochte innerlich vor Wut. Sie sah hinüber zu Ashley, bis diese ihr Buch, in dem sie dieselbe Seite zum dritten Mal gelesen hatte, auf den Boden schleuderte. »Ich weiß nicht, ob ich das länger mitmachen soll«, brach es aus Ashley heraus. »Ich werde wie eine Sechsjährige behandelt. Auf mein Zimmer geschickt, wo ich mich irgendwie beschäftigen soll, während meine Eltern meine Zukunft für mich planen. Verflucht noch mal, Catherine, ich bin doch kein kleines Kind! Ich kann selbst für mich einstehen.«
»Da gebe ich dir recht«, sagte Catherine.
»Weißt du was? Ich sollte mir einfach diese verdammte Pistole schnappen und das Problem ein für alle Mal lösen.«
»Ich glaube, Ashley, Schätzchen, das ist genau das, was deine Eltern verhindern wollen. Und ich habe dir diese Waffe nicht besorgt, damit du hergehst und drauflos ballerst, nur weil dich die ganze Sache ankotzt. Ich habe sie dir nur besorgt, damit du dich verteidigen kannst, falls O’Connell hinter dir her ist.«
Ashley lehnte den Kopf zurück. »Ist er heute schon, weißt du?«
»Er ist was?«
»Er war da. Wahrscheinlich ist er in diesem Moment irgendwo da draußen. Und wartet.«
»Wartet?«
»Auf den richtigen Augenblick. Er ist verrückt. Verrückt nach mir. Verrückt und besessen, verrückt, ich weiß nicht, was. Aber er ist da. Für ihn gibt es nur eine Sache im Leben, die ihm wichtig ist, und das bin ich.«
Catherine nickte. Plötzlich beugte sie sich vor. »Würdest du es fertigbringen?«
Ashley riss die Augen auf und blickte von Catherine zu ihrer Schultertasche mit der Waffe und zurück.
»Würdest du es schaffen?«, setzte Catherine nach.
»Ja«, antwortete Ashley steif. »Würde ich, sicher. Ich weiß es.«
»Ich hab’s nicht geschafft, als es einfach gewesen wäre. Mit der Schrotflinte, als er mir direkt gegenüberstand. Ich hätte es schaffen sollen. Habe ich aber nicht. Wärst du stärker als ich, Liebes? Entschlossener? Tapferer?«
»Ich weiß nicht. Aber, ja, doch, ich denke schon.«
»Ich muss es wissen.«
»Wie soll irgendjemand das wissen, bevor er es tatsächlich macht? Aber wenn du meinst, ob ich abdrücken kann, dann denke ich, ja.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass du es schaffst«, sagte Catherine. »Vielleicht, es wäre immerhin möglich. Es ist dunkel. Bist du davon überzeugt, dass er da draußen ist?«
»Ja.«
»Nun, du könntest dem ganzen Spuk ein Ende bereiten, indem du die Pistole da in die Jackentasche steckst und um Mitternacht mit mir einen Spaziergang machst. Und falls er versucht, sich uns in den Weg zu stellen, dann handelst du. Möglicherweise sagt er, dass er nur mit dir reden will, das sagen sie immer. Aber statt dich darauf einzulassen, erschießt du ihn einfach. Auf der Stelle. Dann kommt die Polizei, und wahrscheinlich nehmen sie dich fest. Dann soll deine Mutter den besten Anwalt für dich anheuern. Du musst in Kauf nehmen, dass du vor Gericht kommst. Aber die Leute in dieser Gegend, in der deine Mutter und Hope wohnen, werden nicht besonders geneigt sein, einen Mann – insbesondere einen Stalker, der einer jungen Frau nachstellt – mit so etwas durchkommen zu lassen. Oder auch nur die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es anders gelaufen ist, als wir sagen.«
»Du meinst …«
»Ich denke, du kannst es tun, wenn du bereit bist, den Preis dafür zu zahlen.«
»Gefängnis?«
»Vielleicht. Traurige Berühmtheit. Das Aushängeschild für alle möglichen Leute, denen es um etwas ganz anderes geht, genau wie deine Eltern es vorausgesagt haben.«
Ashley warf den Kopf zurück. »Ich halte das nicht mehr sehr viel länger aus. Einen Moment hab ich schreckliche Angst, dann wieder bin ich stinkwütend. Eben noch fühle ich mich halbwegs sicher, im nächsten Moment bedroht.«
»Wieso können wir nicht zu Gewalt greifen, bevor sie es uns gegenüber tun?«, sinnierte Catherine grimmig. »Wieso läuft es immer so unfair? Wieso müssen wir warten, bis wir das Opfer sind?«
»Das hab ich nicht vor.«
»Gut, hatte ich mir gedacht. Dann lass uns
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