Das Opfer
Worte ab. »Vermutlich, ja«, sagte sie. »Andererseits«, fügte sie zögernd hinzu, »wäre es wohl ein fatalerer Fehler, einen solchen Brief zu unterschätzen, oder?«
»Du meinst, Scott ist zu Recht beunruhigt?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich denke nur, dass es sich selten auszahlt, etwas zu ignorieren.«
Sally lächelte. »Jetzt klingst du wie die Schulpsychologin.«
»Ich
bin
Schulpsychologin. Es ist demnach nicht allzu abwegig, wenn ich ab und zu auch so klinge.«
Sally schwieg. »Ich wollte nicht, dass wir uns darüber streiten.«
Hope nickte. »Natürlich.« Sie war nicht sicher, ob sie es auch so meinte, aber es war die klügste Reaktion.
»Immer wieder habe ich das Gefühl, dass jedes Gespräch, in dem Scotts Name fällt, zu einem läppischen Streit ausartet«, sagte Sally. »Selbst nach all den Jahren noch.«
Hope schüttelte den Kopf. »Also, reden wir einfach nicht über Scott. Schließlich geht er uns nicht mehr viel an, nicht wahr? Aber er geht Ashley eine Menge an, wir sollten ihn folglich in diesem Zusammenhang sehen. Und selbst wenn Scott und ichuns nicht allzu gut verstehen, heißt das noch lange nicht, dass ich ihn automatisch für übergeschnappt halte.«
»Okay«, sagte Sally, »logisch. Aber der Brief …«
»Hattest du in letzter Zeit das Gefühl, dass Ashley geistesabwesend oder distanziert wirkte oder sonst irgendwie anders?«, fragte Hope.
»Du weißt so gut wie ich, dass die Antwort
nein
lautet. Es sei denn, mir wäre was entgangen.«
»Ich weiß nicht, ob ich so gut darin bin, bei jungen Frauen unterschwellige Gefühlsregungen aufzuspüren.« Hope stellte die Bemerkung in den Raum, obwohl sie wusste, dass das Gegenteil der Fall war.
»Wieso traust du es mir dann zu?«
Hope zuckte die Achseln. Das ganze Gespräch nahm einen falschen Verlauf, und sie konnte nicht sagen, ob sie schuld daran war. Sie betrachtete Sally über den Esstisch hinweg und stellte fest, dass zwischen ihnen eine Spannung herrschte, die sie nicht recht benennen konnte. Es war, als betrachtete sie in Stein gemeißelte Hieroglyphen. Sie vermittelten eine klare Bedeutung, aber Hope konnte sie nicht entziffern.
»Hast du bei Ashley irgendeine Veränderung bemerkt, als sie das letzte Mal da war?«
Während Hope auf eine Antwort wartete, ließ sie Ashleys letzten Besuch noch einmal Revue passieren. Ashley war mit dem üblichen Wirbel, Selbstvertrauen und vollem Terminkalender hereingeschneit. Manchmal fühlte man sich in ihrer Nähe, als müsste man sich im Zentrum eines Hurrikans am Stamm einer Palme festhalten. Tempo gehörte zu ihrem Wesen.
Sally schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Sie hat alles Mögliche gemacht, hat sich mit Leuten getroffen. Freunde von der Highschool, die sie seit Jahren nicht gesehenhatte. Für ihre öde alte Mama blieb eigentlich kaum eine Sekunde übrig. Oder auch für die Lebensgefährtin ihrer öden alten Mama. Und für ihren öden alten Papa wohl auch nicht mehr.«
Hope nickte.
Sally schob den Stuhl vom Tisch zurück. »Sehen wir einfach, was kommt. Wenn Ashley ein Problem hat, wird sie bestimmt anrufen und uns um Rat oder Hilfe bitten. Wir sollten nicht die Flöhe husten hören, einverstanden? Eigentlich bereue ich, dass ich das Thema angeschnitten habe. Ist auch bloß, weil Scott so aufgeregt war. Aufgeregt ist nicht das richtige Wort. Er war besorgt. Ich glaube, er wird mit zunehmendem Alter ein bisschen paranoid. Was sag ich, wir alle, oder etwa nicht? Und Ashley, die hat Energie für zwei. Am besten gehen wir einfach aus der Schusslinie und lassen sie ihre Dinge selbst regeln.«
Hope nickte. »Aus dir spricht mütterliche Weisheit«, sagte sie. Sie fing an, den Tisch abzuräumen, doch als sie nach einem langstieligen Weinglas griff, knickte ein Stück des Stiels ab und zerbrach auf dem Boden. Sie merkte, dass sie an der Kuppe ihres Zeigefingers blutete. Einen Moment lang sah sie zu, wie das Blut in den Handteller lief und im Takt ihres Herzschlags neue Tropfen hervorquollen.
Sie sahen noch ein bisschen fern, dann erklärte Sally, sie wolle ins Bett. Es war nur eine Feststellung, keine Einladung, nicht einmal begleitet von dem obligatorischen Kuss auf die Wange. Hope sah kaum von den College-Aufsätzen hoch, die sie korrigierte. Immerhin fragte sie Sally, ob sie in den kommenden Wochen Zeit hätte, sich ein, zwei Spiele anzusehen. Sally gab nur eine unverbindliche Antwort, während sie zum Schlafzimmer im zweiten Stock hochging.
Hope
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