Das Opfer
scheinbar hoffnungslosen Lage nicht aufzugeben, sondern zu kämpfen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Das spiegelte sich auch in seinen Lieblingsfilmen und -romanen. Diese Geschichten waren von einem gewissen kindlichen Zauber, der über die Brutalität der tatsächlichen historischen Ereignisse triumphierte. Historiker sind Pragmatiker. Kaltblütig berechnend. Die Ardennenschlacht war für sie der reine Irrsinn, mochten Schriftsteller und Filmemacher sie noch so verklären. Historiker hatten einen schärferen Blick für die Frostbeulen, die Blutlachen, die am Boden gefrieren, die Hilflosigkeit und dumpfe Verzweiflung der Beteiligten.
Er war davon überzeugt, dass er einiges von dieser hochfliegenden romantischen Ader an Ashley weitergegeben hatte. Jedenfalls hatte sie die Begeisterung für Geschichten mit ihm geteilt und sich stundenlang in
Unsere kleine Farm
oder in die Romane von Jane Austen vertieft. Möglicherweise rührte ihre Zutraulichkeit zumindest teilweise daher.
Mit einem Mal hatte er einen beißenden Geschmack auf der Zunge, als hätte er etwas Bitteres getrunken. Er hasste den Gedanken, dass er ebenso zu ihrer Vertrauensseligkeit wie ihrer Unabhängigkeit beigetragen hatte, denn genau diese Eigenschaften an ihr machten ihm jetzt schwer zu schaffen.
Scott schüttelte den Kopf und wies sich laut zurecht: »Du greifst den Dingen mächtig vor. Bis jetzt weißt du noch herzlich wenig, so gut wie nichts, um genau zu sein …«
Fang mit den einfachen Dingen an, befahl er sich. Sieh zu, dass du den Namen herausfindest.
Die Frage war nur, wie er das schaffen konnte, ohne dass seine Tochter etwas bemerkte. Er musste sich einmischen, durfte sich aber nicht erwischen lassen.
Ein bisschen fühlte er sich wie ein Krimineller, als er sich umdrehte und die Treppe des kleinen Holzständerhauses zu Ashleys altem Zimmer hochstieg. Ihm schwebte eine gründlichere Suche vor, bei der er – wie er hoffte – auf verräterische Details stoßen würde, die ihn über den Brief hinaus Stück für Stück weiterführten. Er hatte einen Anflug von Schuldgefühlen, als er durch die Tür ins Zimmer trat und sich fragte, wieso er die Privatsphäre seiner Tochter verletzen musste, um mehr über sie zu erfahren.
Sally Freeman-Richards sah beim Abendessen von ihrem Teller auf und sagte träge: »Ich hab heute Nachmittag einen ziemlich seltsamen Anruf von Scott bekommen.«
Hope brummte etwas und griff nach dem Sauerteigbrot. Sie kannte Sallys Gewohnheit, ihr etwas auf umständlichem Weg zu erzählen. Manchmal hatte Hope das Gefühl, dass Sally ihr selbst nach so vielen Jahren ein Rätsel blieb. Bei Gericht konnte sie so kraftvoll und aggressiv sein, in der Privatsphäre des Hauses dagegen geradezu schüchtern. Hope sah eine Reihe von Widersprüchlichkeiten in ihrer beider Leben, und Widersprüchlichkeiten sorgen im Allgemeinen für Spannungen.
»Er scheint beunruhigt …«, setzte Sally an.
»Beunruhigt wegen was?«
»Wegen Ashley.«
Hope legte das Messer neben ihren Teller. »Ashley? Warum das?«
Sally zögerte einen Moment. »Offenbar hat er in ihren Sachen gekramt und ist dabei auf einen Brief gestoßen, der ihm Sorgen macht.«
»Was hat er in ihren Sachen zu kramen?«
»Das wollte ich auch als Erstes wissen. Ich sehe, wir verstehen uns.«
»Und?«
»Na ja, er hat ausweichend geantwortet. Er wollte mit mir über den Brief reden.«
Hope zuckte die Achseln. »Na schön, was ist mit dem Brief?« Sally überlegte einen Moment, bevor sie fragte: »Also, hast du schon mal, ich meine, an der Highschool oder am College oder sonst irgendwann, einen Liebesbrief bekommen, du weißt schon, so ein Bekenntnis tiefster Hingabe, Liebe und ewiger Leidenschaft, so im Stil von: Ich kann nicht leben ohne dich?«
»Hm, nein, so etwas hab ich nie bekommen. Allerdings gab es vielleicht besondere Gründe, weshalb ich leer ausgegangen bin. So etwas hat er also gefunden?«
»Ja. Eine Liebesbeteuerung.«
»Klingt doch ziemlich harmlos. Und was hat ihn deiner Meinung nach daran so irritiert?«
»Etwas im Ton, denke ich.«
»Geht’s ein bisschen genauer?«, hakte Hope nach, einen Hauch gereizt.
Sally überlegte sich gut, was sie darauf antwortete – die Umsicht einer Rechtsanwältin. »Es wirkte wohl, ich weiß nicht, besitzergreifend. Und vielleicht ein bisschen manisch. So etwas wie:
Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich auch kein anderer kriegen
. Vermutlich hört er das Gras wachsen.«
Hope nickte. Auch sie wog ihre
Weitere Kostenlose Bücher