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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Bürgersteigen begegneten sich aufstrebende Punkrocker, Folk-Sänger und Konzertpianisten. Lange Künstlermähnen, hochgegelte Stacheln, ungepflegte Strähnen. Dazwischen ein Obdachloser, im Schatten mit dem Rücken an die Wand einer schmalen Gasse gelehnt, der leise Selbstgespräche führte und unentwegt vor und zurück wippte – vor und zurück, vor und zurück. Während ich mich zum Gehen wandte, hörte er womöglich viele Stimmen, vielleicht aber auch nur die sehnsüchtigen Forderungen einer einzigen, wer konnte das sagen. Nicht weit von mir hupte ein BMW, als ein paar Studenten, von der Sonne geblendet, einfach auf die Straße liefen. Kurz darauf beschleunigte er mit quietschenden Reifen.
    Für einen Moment blieb ich stehen. Das Einmalige an Boston war,dass es für die unterschiedlichsten Strömungen offenblieb und sie alle in sich vereinte. Es war, kam mir plötzlich in den Sinn, nicht verwunderlich, dass Michael O’Connell sich an einem Ort zu Hause fühlte, der einem eine solche Auswahl an Identitäten bot. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich ihn noch nicht besonders gut, aber ich hatte immerhin eine leise Ahnung, wie er tickte.
    Natürlich sah sich Ashley Freeman dem gleichen Rätsel gegenüber.

6
Ein Vorgeschmack auf das, was kommen sollte
     
    Bis Mittag wagte sie sich nicht zu rühren. Als die Sonne zu den Fenstern hereinströmte und der ferne Straßenlärm in ihre Wohnung drang, stand sie auf. Eine Weile starrte sie durch die verdreckte Scheibe, wie um sich einzureden, dass bei diesem Hin- und Herwogen eines ganz gewöhnlichen Tages eigentlich nichts Besonderes passieren konnte. Sie fixierte jeweils eine Person auf dem Bürgersteig, solange sie in ihrem Gesichtsfeld war. Auch wenn sie niemanden kannte, wirkten alle vertraut. Alle passten in das übliche Schema: Der Geschäftsmann. Der Student. Die Kellnerin. Dort unten herrschte eine Welt der Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit, an der sie nicht teilhaben konnte.
    Ashley fühlte sich unter diesen Menschen wie eine Insel. Einen Moment lang wünschte sie sich, sie hätte eine Zimmergenossin oder beste Freundin. Jemand, dem sie sich anvertrauen konnte, jemand, der am Fußende des Bettes sitzen und einen Tee schlürfen würde, bereit, beim jeweiligen Stichwort zu lachen oder zu weinen oder in anderer Form Anteilnahme zu zeigen. Sie wusste, dass sie in Boston unzählige Leute kannte, aber niemanden, mit dem sie eine ernste Belastung teilen konnte, schon gar nicht, wenn sie Michael O’Connell hieß. Sie hatte hundert Freunde, aber keinen richtigen Freund. Sie drehte sichzu ihrem mit halb fertiggestellten Referaten, kunstgeschichtlichen Lehrbüchern, einem Laptop und einigen CDs übersäten Schreibtisch um. Sie wühlte in dem Durcheinander, bis sie einen kleinen Zettel mit einer Zahl darauf fand.
    Dann holte Ashley einmal tief Luft und wählte Michael O’Connells Nummer.
    Es klingelte zwei Mal, bevor er sich meldete.
    »Ja?«
    »Ashley. Michael, ich …«
    Es trat Schweigen ein. Sie wünschte, sie hätte sich genau zurechtgelegt, was sie sagen sollte, um sich klar und unmissverständlich auszudrücken. Stattdessen bekamen die Emotionen die Oberhand.
    »Ich will nicht, dass du mich noch mal anrufst«, platzte sie heraus.
    Er sagte nichts.
    »Als du heute Morgen am Telefon warst, da habe ich noch geschlafen. Ich habe mich zu Tode erschrocken …«
    Sie wartete auf eine Entschuldigung, doch vergeblich.
    »Michael, bitte«, fügte sie hinzu. Es klang so, als bäte sie ihn um einen Gefallen.
    Er antwortete nicht.
    Sie stammelte weiter. »Hör mal, das war nur eine Nacht, nicht mehr. Wir hatten ein bisschen Spaß, ein paar Drinks zu viel, und es hätte nicht so weit gehen sollen, auch wenn ich es nicht bereue, das meine ich nicht. Es tut mir leid, wenn du meine Gefühle missverstanden hast. Können wir nicht einfach als Freunde auseinandergehen? Jeder sein eigenes Leben führen?« Sie hörte zwar am anderen Ende seinen Atem, aber kein Wort.
    »Deshalb möchte ich«, fuhr sie fort und war sich dabei durchaus bewusst, dass sie immer weniger überzeugend, immer jämmerlicherklang, »dass du mir keine Briefe mehr schickst, schon gar nicht solche wie letzte Woche. Der war doch von dir, oder? Er kann nur von dir sein. Ich weiß, dass du ziemlich viel um die Ohren hast, und ich bin mit meiner Arbeit eingespannt und versuche, das mit dem Graduiertenprogramm hinzukriegen, ich hab einfach nicht die Zeit für eine ernsthafte Beziehung. Ich weiß, du verstehst das. Ich brauche

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