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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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meinen Freiraum. Ich meine, wir haben beide so viele Dinge laufen, für mich ist es einfach nicht der richtige Moment, und ich wette, für dich genauso wenig. Das verstehst du doch, oder?«
    Sie ließ die Frage sinken und wartete eine Weile, bis sie in das Schweigen hinein, das sie sich als Zustimmung deutete, hinzufügte: »Ich weiß es zu schätzen, dass du mir zuhörst, Michael. Und ich wünsche dir nur das Beste, ehrlich. Vielleicht können wir irgendwann in Zukunft bessere Freunde werden. Aber im Moment nicht, okay? Es tut mir leid, wenn dich das enttäuscht, aber falls du mich wirklich so liebst, wie du sagst, dann wirst du verstehen, dass ich für mich sein möchte und derzeit keine feste Bindung eingehen will. Ich kann nicht für alle Zukunft sprechen, aber derzeit kommt das für mich einfach nicht in Frage, ja? Ich möchte, dass wir das als Freunde beenden, ja?«
    Sie hörte seinen Atem, ein und aus. Ruhig und regelmäßig.
    »Hör mal«, sagte sie, und nun schlich sich eine gewisse Ungeduld, eine gewisse Verzweiflung in ihren Ton, »wir kennen uns doch eigentlich gar nicht. Es war ein einziges Mal, und wir waren beide ein bisschen betrunken, stimmt’s? Wie kannst du behaupten, du würdest mich lieben? Wie kannst du so etwas sagen? Wir wären füreinander bestimmt – das ist verrückt. Du könntest nicht ohne mich leben. Das ergibt doch keinen Sinn. Nicht den geringsten. Ich will einfach nur, dass du mich inRuhe lässt, okay? Du wirst jemand anders finden, jemand, der genau richtig für dich ist, bestimmt. Aber ich bin es nicht. Bitte, Michael, lass mich einfach in Ruhe, ja?«
    Michael O’Connell sagte kein Wort. Er lachte nur. Es klang fremd und kam wie aus weiter Entfernung. Und es hatte nicht das Geringste mit dem zu tun, was sie gesagt hatte, nichts daran war komisch oder ironisch gewesen. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter.
    Dann legte sie auf.
    Eine Weile blieb sie stehen und starrte auf den Hörer in ihrer Hand, während sie sich fragte, ob die Unterhaltung tatsächlich stattgefunden hatte. Einen Augenblick lang war sie sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt am Apparat gewesen war, doch dann erinnerte sie sich an das eine Wort, das er gesagt hatte, und das war eindeutig er gewesen, auch wenn er für sie fast ein Fremder war. Sie stellte das Telefon sorgsam auf den Sockel und sah sich verängstigt in der Wohnung um, als rechnete sie jeden Moment damit, dass sich jemand auf sie stürzen würde. Sie konnte das ferne Verkehrsrauschen hören, doch es trug wenig dazu bei, dieses Gefühl vollkommener Einsamkeit, das sie überkam, auch nur abzumildern.
    In einem Anfall von Erschöpfung ließ sich Ashley auf die Bettkante sinken, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie fühlte sich unsäglich klein.
    Sie wusste nicht im Mindesten, was sie von der Situation halten sollte; sie hatte lediglich das Gefühl, dass eine Lawine ins Rollen gekommen war und immer schneller wurde – vielleicht noch aufzuhalten, aber es blieb nicht mehr viel Zeit. Sie wischte sich die Augen und befahl sich, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Sie versuchte, das Gefühl der Hilflosigkeit mit Widerstandskraft und Entschlossenheit zu überwinden.
    Ashley schüttelte energisch den Kopf. »Du hättest dir zurechtlegenmüssen, was du sagst«, wies sie sich laut zurecht. Der Widerhall ihrer eigenen Worte in dem engen Apartment irritierte sie. Eigentlich hatte sie alles darangesetzt, ihrer Aufforderung Nachdruck zu verleihen – das war der Zweck ihres Anrufs gewesen, doch stattdessen hatte sie schwach und jämmerlich geklungen, hatte ihn geradezu angefleht, alles Dinge, die, wie sie fand, nicht zu ihr passten. Sie zwang sich, vom Bettrand aufzustehen. »Verflucht noch mal«, murmelte sie und fügte hinzu: »Was für ein gottverdammter, beschissener Schlamassel.« Danach ließ sie einen ganzen Sturzbach an Obszönitäten los, zischte jedes böse, derbe und rohe Wort in die abgestandene Luft ihres Zimmers, um ihrem Frust und ihrem Ärger freien Lauf zu lassen. Dann versuchte sie sich zu beruhigen. »Er ist nichts weiter als ein Mistkerl«, sagte sie laut. »Schließlich nicht der erste, den du kennenlernst.«
    Tief im Innern wusste Ashley, dass das nicht stimmte. Doch sie fühlte sich besser, wenn sie ihre eigene Stimme so grimmig und entschieden hörte. Sie suchte in ihren Sachen, fand ein Handtuch und ging zielstrebig in ihr kleines Badezimmer. Innerhalb weniger Sekunden lief die heiße Dusche, und sie hatte die

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