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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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und die Ankunft eines Kindes, besonders eines mit Ashleys Energie, freudig begrüßt. Also hatte Hope Ashley eingespannt, ihr beim Abrichten des Welpen zu helfen, was ihnen nur zum Teil gelang. So gelehrig er sich beim Apportieren zeigte, so begriffsstutzig gab er sich im Umgang mit dem Mobiliar. Und so hatten sie, indem sie über die Erfolge und Misserfolge des Hundes sprachen, ihr Verhältnis zunächst entkrampft, dann langsam eine Verständigungsbasis und schließlich so etwas wie ein Gefühl der Verbundenheit entwickelt, das ihnen dabei half, die anderen Barrieren zu durchbrechen, denen sie sich gegenübersahen.
    Hope kraulte Nameless hinter den Ohren. Sie verdankte ihm viel mehr als er ihr. »Hunger?«, fragte sie. »Ein bisschen Hundefutter?«
    Nameless bejahte mit einem Bellen. Blöde Frage an einen Hund, dachte Hope, die er aber zweifellos gerne hörte. Sie ging in die Küche und hob den Fressnapf vom Boden auf, während sie überlegte, was sie für Sally und sich zum Abendessen machen könnte. Etwas Interessantes, beschloss sie. Ein Stück wilden Lachs mit einer Fenchelcremesoße und Risotto. Sie war eine ausgezeichnete Köchin und stolz darauf. Nameless saß da und fegte in freudiger Erwartung den Boden mit dem Schwanz. »Es geht mir nicht anders als dir«, sagte sie zu dem Hund. »Wir warten beide. Nur mit dem Unterschied, dass es bei dir eindeutig ums Fressen geht und ich nicht weiß, was auf mich zukommt.«
     
    Scott Freeman sah sich um und dachte an die Momente im Leben, in denen die Einsamkeit einen vollkommen unerwartet traf.
    Er war in einen etwas altersschwachen Queen-Anne-Lehnstuhl gesunken und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die durch die letzten herbstlichen Blätter an den Bäumen kroch. Er hatte ein paar Referate zu korrigieren, eine Vorlesung zu schreiben, einige Pflichtlektüren zu erledigen – das Manuskript eines Kollegen war von der University Press mit der Post gekommen, und er saß im Gutachtergremium; außerdem lagen ein gutes halbes Dutzend Anfragen von Hauptfachstudenten vor, die ihn bei der Wahl ihrer Kurse um Rat ersuchten.
    Darüber hinaus steckte er bei einem eigenen Aufsatz fest, der sich mit einem seltsamen Kampfverhalten im amerikanischen Revolutionskrieg beschäftigte. Äußerste Brutalität wechselte dabei abrupt mit fast mittelalterlicher Ritterlichkeit, etwa als Washington mitten im Schlachtgetümmel von Princeton einem britischen General den verirrten Hund zurückgab.
    Jede Menge Arbeit, dachte er. »Packen wir’s an«, sagte er laut, wenn auch nur zu sich selbst.
    Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass es ihm nicht das Geringste bedeutete.
    Er dachte darüber nach und korrigierte sich: Möglicherweise hatte es keine Bedeutung.
    Das hing ganz davon ab, was er als Nächstes tat.
    Er wandte den Blick vom schwindenden Tageslicht ab und las erneut den Brief, den er in Ashleys Kommode gefunden hatte. Er las jedes Wort zum hundertsten Mal und fühlte sich nicht minder in der Klemme als bei seiner Entdeckung. Dann ging er im Geist noch einmal sein Telefonat mit Ashley durch – jedes Wort, jede Nuance im Tonfall, jede kleinste Äußerung.
    Scott lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er musste sich in Ashley hineinversetzen. Du wirst doch wohl deine eigene Tochter kennen, sagte er sich. Was geht hier bloß vor?
    Die Frage hallte in seinen Gedanken nach.
    Als Erstes, meldete sich beharrlich eine innere Stimme, musste er herausfinden, wer den Brief geschrieben hatte. War das geschafft, konnte er sich ein Bild von dem Menschen machen, ohne sich in das Leben seiner Tochter einzumischen. Wenn er geschickt vorging, dachte er, konnte er zu einem Ergebnis kommen, ohne jemand anderen mit einzubeziehen, das heißt, ohne sich an jemanden zu wenden, der Ashley verraten würde, dass er seine Nase in ihre Angelegenheiten steckte. Fand er, wie er hoffte, heraus, dass der Brief lediglich irritierend und unangemessen war, konnte er sich entspannen und es Ashley selbst überlassen, den lästigen Verehrer aus ihrem Leben zu verbannen.
    Vermutlich, sagte er sich, brauchte er nicht einmal Ashleys Mutter und ihre Lebenspartnerin einzuschalten, was eindeutig seinen Wünschen entsprach.
    Die Frage war nur, wo er anfangen sollte.
    Für ihn lag ein großer Vorzug des Geschichtsstudiums darin, die Handlungsmuster herauszuarbeiten, denen große Männer im Lauf der Jahrhunderte gefolgt waren. Scott war sich seiner stillen romantischen Ader bewusst, der Vorstellung etwa, in einer

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