Das Opfer
Kleider abgestreift. Als sie unter den dampfenden Wasserstrahl trat, hatte sie das Gefühl, durch das Gespräch mit Michael O’Connell beschmutzt worden zu sein, und sie schrubbte sich die Haut rot, als gelte es, einen unangenehmen Geruch loszuwerden oder einen hartnäckigen Flecken, der sich allen Versuchen, ihn zu entfernen, widersetzte.
Als sie aus der Dusche trat, wischte sie ein Stück des beschlagenen Spiegels frei und sah sich tief in die Augen. Mach einen Plan, sagte sie sich. Ignorier den Mistkerl einfach, und er geht von allein. Sie schnaubte und spannte die Muskeln in den Oberarmen an. Sie ließ den Blick über ihren Körper gleiten, als wolle sie die Kurven ihrer Brüste, ihren flachen Bauch, diestraffen Beine abschätzen. Sie fand, sie war fit, gepflegt und gut aussehend. Und sie hielt sich für stark.
Ashley betrat ihr Schlafzimmer und zog sich an. Sie hatte den Drang, etwas Neues anzuziehen, etwas anderes, etwas, das sie nicht kannte. Sie schob den Laptop in den Rucksack und sah nach, ob sie Bargeld in der Brieftasche hatte. Ihre Pläne für diesen Tag glichen mehr oder weniger denen an jedem anderen Tag: hinüber in den Bibliotheksflügel des Museums, um zwischen den Regalen mit kunstgeschichtlichen Büchern zu studieren, bevor sie zu ihrem Job ging. Sie hatte mehr als ein Referat, das sie fertigstellen musste, und sie hoffte, dass es ihr helfen würde, Michael O’Connell zu vergessen, wenn sie sich in die Bücher und Abbildungen großer Visionen stürzte.
Als sie sicher war, alles dabeizuhaben, was sie brauchte, schnapp te sie sich die Schlüssel und öffnete die Tür zum Flur. Und blieb abrupt stehen.
An der Wand gegenüber ihrer Tür war ein Dutzend Rosen mit Klebeband befestigt worden.
Tote Rosen. Schlaff und verwelkt.
Während sie darauf starrte, löste sich ein blutrotes Blütenblatt, das vom Alter fast schwarz geworden war, und flatterte zu Boden, als sei es nicht durch einen Luftzug abgerissen worden, sondern allein durch Ashleys Blick. Sie konnte die Augen nicht davon lassen.
Scott saß an seinem Schreibtisch in seinem kleinen Büro am College, zwirbelte einen Bleistift zwischen den Fingern der rechten Hand und dachte über die Frage nach, wie man sich in das Leben seines fast erwachsenen Kindes einmischen konnte, ohne dass es auffiel. Wäre Ashley noch ein Teenager oder ein Kind, dann hätte er das Recht gehabt, ein bisschen aufzubrausen und von ihr die gewünschte Auskunft zu verlangen, selbstwenn er Tränenströme, Beschimpfungen und die ganze übrige Kind-Eltern-Dynamik heraufbeschwor. Ashley aber stand genau zwischen Jugend und dem Erwachsensein, und er hatte keine Ahnung, wie er vorgehen sollte. Außerdem wuchs mit jeder Sekunde, die er untätig blieb, seine Sorge.
Er musste behutsam, aber effizient vorgehen.
Ihn umgaben Regale voller Geschichtsbände und eine billig gerahmte Reproduktion der Unabhängigkeitserklärung. Mindestens drei Fotos von Ashley standen auf der Ecke seines Schreibtischs oder hingen an der Wand ihm gegenüber. Das erstaunlichste Bild von ihr war der Schnappschuss bei einem Basketballspiel, mit angespanntem Gesicht und flatterndem roten Pferdeschwanz, während sie in die Höhe sprang und zwei Gegnerinnen den Ball wegnahm. Er hatte noch ein Foto, das er allerdings in der obersten Schreibtischschublade aufbewahrte. Es war ein Bild von ihm selbst mit zwanzig Jahren, ein wenig jünger, als seine Tochter jetzt war. Er saß auf einer Munitionskiste neben einem Stapel Granaten, direkt hinter der 125-Millimeter-Haubitze. Den Helm zu seinen Füßen abgelegt, rauchte er eine Zigarette, was in der Nähe von so viel Zündstoff wohl keine gute Idee gewesen war. Er blickte erschöpft und leer. Manchmal glaubte Scott, dass dieses Foto die einzig handgreifliche Erinnerung an seine Kriegszeit war. Zuerst hatte er es rahmen lassen, und dann hatte er es versteckt. Er glaubte nicht, dass er es jemals Sally gezeigt hatte, selbst als Ashley unterwegs war und sie glaubten, sie liebten sich noch. Einen Moment lang überlegte er, ob Sally ihn je nach seinen Kriegserfahrungen gefragt hatte. Scott setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. Der Gedanke an seine Vergangenheit machte ihn nervös. Er befasste sich lieber mit der Geschichte anderer als mit der eigenen.
Scott wippte vor und zurück.
In Gedanken ging er wieder den Wortlaut des Briefes durch. Dabei kam ihm eine Idee.
Es gehörte zu Scotts zugleich guten wie schlechten Gewohnheiten, Karten und Zettel mit Namen und
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