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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Telefonnummern nicht wegwerfen zu können. Eine Art von Sammeltrieb. Er musste fast eine halbe Stunde in Schreibtischschubladen und Aktenschränken wühlen, doch am Ende hatte er gefunden, was er suchte. Er hoffte, dass die Handynummer noch stimmte.
    Beim dritten Klingelton hörte er eine vage vertraute Stimme.
    »Hallo?«
    »Ist da Susan Fletcher?«
    »Ja, wer spricht da?«
    »Susan, Scott Freeman hier, Ashleys Vater … Sie wissen schon, von ihren ersten beiden Studienjahren.«
    Einen Moment herrschte Schweigen, dann hellte sich die Stimme am anderen Ende auf. »Mr. Freeman, ja, natürlich, ist ein wenig her …«
    »Tja, wie die Zeit vergeht.«
    »Können Sie laut sagen. Du liebe Güte, wie geht’s Ashley? Ich hab sie seit vielen Monaten nicht gesehen …«
    »Deshalb rufe ich ehrlich gesagt an.«
    »Gibt es ein Problem?«
    Scott überlegte. »Möglicherweise ja.«
     
    Susan Fletcher war ein Wirbelwind von einer jungen Frau, die zwischen ihrem Kopf, dem Schreibtisch und dem Computer ständig ein halbes Dutzend Ideen und Pläne jonglierte. Sie war klein, dunkelhaarig, nahezu anstrengend intensiv und ein unerschöpfliches Bündel an Energie. Kaum hatte sie das Examen in der Tasche, hatte die Credit Suisse First Boston sie sich für ihren Sektor Finanzplanung geangelt.
    Sie stand vor dem Fenster ihrer Bürokabine und sah zu, wieein Flugzeug nach dem anderen zur Landung auf den Logan Airport herunterschwebte. Ihr Gespräch mit Scott Freeman hatte sie ein wenig beunruhigt, und sie war sich nicht sicher, wie sie vorgehen sollte, auch wenn sie ihm versprochen hatte, sich der Sache anzunehmen.
    Susan mochte Ashley, obschon sie seit fast zwei Jahren keinen Kontakt mehr hatten. Sie waren im ersten Jahr am College als Zimmergenossinnen zusammengewürfelt worden, zunächst erstaunt, wie verschieden sie waren, und dann umso erstaunter, als sie merkten, wie gut sie sich verstanden. Sie blieben ein zweites Jahr zusammen, bevor sie beide vom Campus wegzogen. Sie sahen sich bedeutend weniger, doch wann immer sie sich trafen, hatte sich stets dieses vertraute Gefühl wieder eingestellt, und sie hatten eine Menge Spaß miteinander gehabt. Inzwischen verband sie nur noch wenig – hätte Susan jetzt geheiratet, wäre es fraglich, ob sie Ashley gebeten hätte, Brautjungfer zu sein. Doch sie hegte für ihre frühere Zimmergenossin eine große Zuneigung, dachte sie zumindest.
    Sie blickte zum Telefon.
    Irgendwie fühlte sie sich bei dem, worum Ashleys Vater sie gebeten hatte, unbehaglich. Zunächst ging es darum, sie mehr als nur ein bisschen auszuspionieren. Andererseits handelte es sich wohl um kaum mehr als übertriebene väterliche Sorge. Sie konnte einen Anruf machen, der sie beruhigte, Scott Freeman Rückmeldung erstatten, und alle würden wieder zur Tagesordnung übergehen. Außerdem hätte es den Vorteil, mit einer alten Freundin Kontakt aufzunehmen, in den meisten Fällen keine schlechte Idee.
    Falls es zu Irritationen kam, dann wohl am ehesten zwischen Ashley und ihrem Vater. Also griff sie mit wenig Bedenken zu ihrem Telefon, blickte ein letztes Mal in die einsetzende Abenddämmerung draußen am Hafen und wählte Ashleys Nummer.Es klingelte fünf Mal, bevor sich jemand meldete, genau in dem Moment, als Susan dachte, sie müsse eine Nachricht auf den Anrufbeantworter sprechen.
    »Ja?«
    Die Stimme ihrer Freundin war schroff, was Susan überraschte. »Hey, Free-Girl, wie läuft’s denn so?« Es schwang ein wenig Nostalgie mit, als sie Ashleys Spitznamen aus dem ersten College-Jahr benutzte. Das einzige Seminar, das sie gemeinsam belegt hatten, befasste sich mit Frauen im zwanzigsten Jahrhundert, und sie hatten sich eines Abends nach ein paar Bier darauf verständigt, dass Free
man
sexistisch und unpassend war, Freifrau die falschen Assoziationen weckte, während Free-Girl ziemlich gut passte.
     
    Ashley wartete vor dem Hammer and Anvil auf der Straße. Gegen den schneidenden Wind zog sie sich den Jackenkragen hoch, während ihr die Kälte vom Bürgersteig durch die Sohlen zog. Sie wusste, dass sie ein paar Minuten zu früh dran war. Susan verspätete sich nie. Das passte einfach nicht zu ihr. Ashley sah auf die Uhr, und genau in diesem Augenblick hörte sie ein Stück weiter die Straße hinauf eine Hupe dröhnen.
    Susan Fletchers strahlendes Grinsen durchdrang den frühen Abend, als sie die Scheibe herunterkurbelte. »Hey, Free-Girl!«, brüllte sie aufrichtig herzlich. »Du hast doch wohl nicht geglaubt, ich würde dich

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