Das Opfer
das alles mit O’Connell zu tun?«
Der Mann schüttelte langsam den Kopf und seufzte.
»Nichts«, sagte er betont. »Rein gar nichts. Bis auf eines: Jedes Mal, wenn ich mit Michael O’Connell geredet hab und er hat nicht geantwortet, sondern mich nur auf diese komische Art angesehen, hat es mich daran erinnert, wie ich in dieses schwarze Loch der Knarre in der Hand des Jungen gestarrt habe. Haargenau dasselbe Gefühl. Verging kein einziges Mal, wo ich mit ihm geredet hab und nicht dieses mulmige Gefühl bekam: Wenn ich was Falsches sage, bringt er mich um.«
8
Ein Anflug von Panik
Ashley beugte sich zum Monitor vor und versuchte, jedes Wort, das vor ihr aufflimmerte, richtig einzuschätzen. Seit über einer Stunde hatte sie unverändert in dieser Haltung dagesessen, so dass sich allmählich ihr Rücken verspannte. Sie merkte, wie ihre Muskeln in den Waden zu zittern begannen, als hätte sie an diesem Tag ihr übliches Jogging-Pensum überzogen.
Die E-Mail-Botschaften waren eine schwindelerregende Phalanx an Liebesbekundungen, elektronisch geschaffene Herzen, Ballons, schlechte Poesie von O’Connells eigener Hand, entschieden bessere Verse, die er bei Shakespeare oder Andrew Marvell oder sogar Rod McKuen zusammengeklaubt hatte. Es wirkte alles unglaublich kindisch und billig und doch ganz und gar furchterregend.
Sie versuchte, einzelne Wortkombinationen und Phrasen aus den E-Mails herauszuschreiben und eine verschlüsselte Botschaft darin zu erkennen.
Er hatte ihr die Aufgabe nicht erleichtert und zum Beispiel ein Wort kursiv oder fett gesetzt. Als sie nahezu zwei Stunden darüber gebrütet hatte, warf sie genervt den Bleistift in die Ecke. Sie kam sich so dämlich vor, weil ihr offensichtlich etwas entging, das jeder Fan von Kreuzworträtseln oder Akrosticha herausbekommen hätte.
»Was soll das Ganze?«, herrschte sie den Monitor an. »Was willst du mir sagen?«
Sie erschrak darüber, wie ungewohnt schrill ihre Stimme klang. Sie scrollte zurück, begann noch mal von vorne und ging jede Nachricht erneut durch, von der ersten bis zur letzten. Eine Mail nach der anderen leuchtete auf dem Bildschirm auf und verschwand, ohne dass sie weiterkam.
»Was? Was? Was?«, schrie sie bei jeder neuen Nachricht.
Und in dieser Sekunde wurde es ihr klar.
Michael O’Connells Nachricht war nicht in den E-Mails versteckt, die er ihr geschickt hatte. Die Nachricht war die Tatsache, dass er sie hatte schicken können.
Jede verzeichnete als Absender eine der Adressen, die sie auf ihrem PC gespeichert hatte. Und jede kam von ihm. Die Tatsache, dass sie Liebesbeteuerungen auf Grundschulniveau enthielten, war ohne jeden Belang. Der springende Punkt war, dass er in der Lage gewesen war, sich in ihren Computer einzuhacken, und dass er sie durch eine geschickte Wortwahl dazu gebracht hatte, jede einzelne Nachricht zu lesen. Darüber hinaus wurde ihr klar, dass sie ihm durch das Öffnen seiner Nachrichten wahrscheinlich irgendeinen elektronischen Zugang verschafft hatte. Michael O’Connell war wie ein Virus, und jetzt war er ihr fast so nahe, als säße er neben ihr.
Ashley atmete heftig ein und verlor fast das Gleichgewicht, als sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte und merkte, wie sich das Zimmer um sie zu drehen begann. Sie hielt sich mit beiden Händen an den Lehnen fest und holte ein paar Mal tief Luft, um ihren jagenden Herzschlag in den Griff zu bekommen.
Langsam wendete sie sich um und ließ den Blick über die kleine Welt ihrer Wohnung schweifen. Michael O’Connell hatte genau eine Nacht hier verbracht, noch dazu eine verkürzte. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass sie beide ein bisschen betrunkenwaren, als sie ihn eingeladen hatte, mit hochzukommen. In ihrer jetzigen verängstigten, stocknüchternen Verfassung versuchte sie, im Geist noch einmal durchzuspielen, was geschehen war. Sie war wütend auf sich, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, wie viel er tatsächlich getrunken hatte. Ein Bier? Zwei? Hatte er sich zurückgehalten, während sie weitere Drinks bestellte? Ihre Panik hatte die Erinnerung daran erschüttert. Was in der Nacht passiert war, ließ sich am besten als eine abstoßende Form von Kontrollverlust beschreiben, eine Stimmung, die sie an sich nicht kannte und die ihr wesensfremd war. Sie hatten etwas unbeholfen die Kleider abgestreift und dann wie wild auf ihrem Bett kopuliert. Es war ein hektischer, gereizter Akt gewesen, ohne viel Zärtlichkeit: Nach wenigen Sekunden war es vorbei.
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