Das Opfer
Wahrheit wohl nie ans Licht kommen würde. Das Kind war an einer einzigen Schusswunde gestorben. Der tödliche Schuss erfolgte aus nächster Nähe. Die Pflegeeltern sagten, der Junge habe die Handfeuerwaffe des Vaters gefunden und damit gespielt, als sich der Schuss löste. Oder es sei kein Spiel gewesen, sondern Selbstmord. Vielleicht aber bedeuteten die äußerst frischen Quetschungen an Armen und Oberkörper des Kindes, welche die Autopsie ans Licht brachte, dass esgeschlagen und dann gewaltsam niedergedrückt worden war, während etwas noch viel Abgründigeres geschah. Vielleicht hatte aber auch das Kind mit einem Erwachsenen um die Waffe gekämpft, und sie war aus Versehen losgegangen. Mord aus Frustration. Mord aus Gier. Mord aus keinem anderen Grund als den schlechten Karten, die das Leben oft denen austeilt, die am wenigsten in der Lage sind zu bluffen.
Ich hatte das Gefühl, dass die Wahrheit oft kaum zu fassen ist.
Eine Woche lang starrte mir jeden Tag aufs Neue das Schwarzweißfoto des Kindes von der Zeitung entgegen. Als er noch lebte, zeigte der Junge ein schönes, ironisches, fast scheues Lächeln und hatte blitzende, kluge Augen. Vielleicht lebte das Interesse an der Geschichte von diesem Bild, bevor es dem ständigen neuen Stoff, dem unaufhaltsamen Strom der Ereignisse weichen musste. Es lag etwas Unehrliches in diesem Tod. Jemand war hereingelegt worden.
Das Kind hatte niemanden, jedenfalls keinen Menschen, dem es wichtig genug war.
Ich denke, ich war keinen Deut besser als alle anderen, die von der Geschichte lasen, in den Nachrichten davon hörten oder sich beim Plausch über den Gartenzaun hinweg darüber unterhielten. Sie berührte jeden, der schon einmal ein schlafendes Kind betrachtet und sich bewusstgemacht hatte, wie verletzlich alles Leben ist und wie wenig Kontrolle wir über das haben, was wir als Glück definieren. Auf ihre Weise machten auch Scott, Sally und Hope im Lauf der Ereignisse diese Erfahrung.
12
Der erste freiwillige Plan
Scott fuhr am folgenden Morgen Richtung Osten – so früh, dass die aufgehende Sonne sich im Reservoir vor der Stadt Gardner spiegelte und für einen Augenblick die Windschutzscheibe mit gleißendem Licht überzog. Gewöhnlich brachte er den Porsche auf der Route zwei mit ihren langen, kaum befahrenen Streckenabschnitten durch einige der unscheinbarsten Landstriche Neuenglands auf Touren. Einmal hatte ein Trooper von der State Police, der nicht mit sich spaßen ließ, ihn mit hundertsiebzig Stundenkilometern erwischt; er hatte den Kopf zum Fenster hereingesteckt und ihm die übliche Gardinenpredigt gehalten, die Scott geflissentlich ignorierte, auch wenn er den Strafzettel damit nicht verhindern konnte.
Der Wagen brummte, wie es typisch für einen Porsche ist, der einem sagen will, ich kann schneller, wenn du mich lässt. Scott blieb bei seiner Geschwindigkeit und überdachte das kurze Gespräch mit Ashley am Abend zuvor. Sie hatten kein Wort darüber verloren, weshalb er sie holte. Er hatte zu ein, zwei Fragen angesetzt, dann aber erkannt, dass sie bereits sowohl mit Hope als auch mit ihrer Mutter gesprochen hatte und er folglich nur dieselben Fragen wiederholen würde, die sie bereits beantwortet hatte. Also hatten sie sich im Wesentlichen auf die Logistik beschränkt, wie etwa
Ich komme früh
, und
Du brauchst nicht erst einzuparken, hupe nur einmal kurz, und ichbin sofort unten
… Er ging davon aus, dass sie auftauen würde, wenn sie erst mal neben ihm saß, wenigstens genug, um ihm bei der Einschätzung der Lage zu helfen.
Bis jetzt war er sich noch nicht sicher, was er von dem Ganzen halten sollte. Die Tatsache, dass sein erster Eindruck bei der Lektüre des Briefs sich als richtig erwiesen hatte, brachte ihm keinerlei Befriedigung.
Ebenso wenig wusste er jetzt, da er seine Tochter aus Boston abholte, wie viel Grund zur Sorge er tatsächlich hatte. Auf eine verquere Weise freute er sich auf das Wiedersehen mit ihr, da er bezweifelte, dass er noch oft Gelegenheit bekommen würde, sich als Vater zu bewähren. Sie wurde erwachsen und brauchte ihn oder ihre Mutter nicht mehr annähernd so sehr wie als Kind.
Scott schob sich die Sonnenbrille auf die Nase. Was braucht Ashley dann? Ein bisschen zusätzliches Geld in der Tasche. Vielleicht irgendwann in der Zukunft eine Hochzeitsfeier. Rat? Eher unwahrscheinlich. Er trat das Gaspedal durch, und der Wagen machte einen Satz nach vorne.
Es war schön, gebraucht zu werden, dachte er, auch wenn er
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