Das Opfer
irgendetwas?«
Sie zögerte einige Sekunden, und vor düsteren Vorahnungen zog sich sein Magen schlagartig zusammen.
»Als wir das letzte Mal telefoniert haben«, begann Sally und kratzte all ihren anwaltlichen Gleichmut zusammen, »da hast du dich besorgt über einen Brief geäußert, den du gefunden hattest. Möglicherweise war deine Reaktion berechtigt.«
Scott brauchte einen Moment. Er hätte diese professionelle Vernunft in ihrem Ton am liebsten niedergeschrien. »Wieso? Was ist passiert? Wo ist Ashley?«
»Ihr fehlt nichts«, erklärte Sally. »Aber möglicherweise hat sie wirklich ein Problem.«
Auf dem Nachhauseweg machte Michael O’Connell einen Abstecher in einen kleinen Laden für Künstlerbedarf. Sein Vorrat an Kohlestiften ging zur Neige, und er steckte eine Packung in seine Parkatasche. Er nahm einen mittelgroßen Skizzenblock und ging damit zur Theke. Hinter der Kasse saß eine gelangweilte junge Frau, deren Gesicht, passend zu den schwarzroten Strähnen im Haar, eine Phalanx an Piercings zierte, in einen Anne-Rice-Roman über Vampire vertieft. Sie trug ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift
Befreit die West Memphis Three
in großen, gotisch angehauchten Lettern. Einen Moment lang war O’Connell sauer auf sich. So nachlässig, wie dieses Mädchen die ein- und ausgehende Kundschaft im Blick behielt, hätte er sich die Taschen mit viel mehr Ware vollstopfen können. Er nahm sich einen weiteren Besuch in ein paar Tagen vor. Er war ein wenig von sich enttäuscht, als er für den Block einige zerfledderte Ein-Dollar-Scheine über die Theke schob. Er wusste, dass die Angestellte nie auf den Gedanken käme, jemandem die Taschen zu durchsuchen, der bereit war, für etwas zu zahlen.
Fehlanzeige. Er erinnerte sich, wie er an der Highschool Football spielte. Seine Lieblingsbegegnungen waren immer diejenigen gewesen, bei denen ein Täuschungsmoment zur Taktik gehörte. Wiege die gegnerische Mannschaft in einem bestimmten Glauben, während etwas ganz anderes passiert. Ein angetäuschter Pass. Eine doppelte Kehrtwende. Er machte sich das Prinzip zur Lebensphilosophie und brachte es bei jeder Gelegenheit zum Einsatz. Sorge dafür, dass dich die Leute unterschätzen. Suggeriere, dass etwas Bestimmtes im Gange ist, während die Gefahr ganz woanders liegt.
Es war das spielerische Element, das ihn daran reizte.
Die Verkäuferin gab ihm das Wechselgeld, und er fragte: »Wer sind die West Memphis Three?«
Sie sah ihn an, als bereite ihr der bloße Akt der Kommunikation physische Schmerzen. Sie seufzte: »Das sind drei Jugendliche, die wegen Mord verurteilt worden sind, an einem anderen Jugendlichen, aber sie haben es nicht getan. Sie wurden eigentlich nur verurteilt, weil sie so anders aussehen. Den ganzen fanatischen Bibelpredigern da unten, denen hat nicht gepasst, wie sie sich anzogen und wie sie über Gothic-Sachen geredet haben und über Satan und so, und jetzt sitzen sie in der Todeszelle, und das ist nicht fair. Im Fernsehen, auf HBO, haben sie einen Bericht darüber gebracht.«
»Sie wurden verhaftet?«
»Das war nicht in Ordnung. Bloß weil du anders bist, heißt das noch lange nicht, dass du schuldig bist.«
Michael O’Connell nickte. »Stimmt«, sagte er. »Macht es den Cops leicht, dich zu finden«, fügte er hinzu. »Dann schnappen sie dich. Aber wenn du so wie die anderen bist, kannst du machen, was du willst. Einfach alles.«
Er kehrte in die Abenddämmerung zurück. Auf seinem Nachhauseweg stellte er im Geiste eine Liste der Informationen zusammen, die er erhalten hatte. Es gibt eine kleine Gruppe am Rande der Gesellschaft, resümierte er, in der man sich relativ unbehelligt bewegen kann. Mach einen Bogen um die Ladenketten mit ihrem Wachpersonal. Arbeite an einer Tankstelle, deren Eigentümer Kosten sparen will und bereit ist, wegzugucken. Lass besser nichts in einem Dairy Mart oder einem 7-11 mitgehen, weil da ständig gestohlen wird und es vielleicht einen Cop gibt, der hinter einem Spionspiegel hockt und sich nach Feierabend mit einer Knarre Kaliber .12 ein Zubrot verdient. Bau immer auf den Überraschungseffekt, aber übertreib’s nicht, die Leute sollen verunsichert, aber nicht aufgeschreckt werden.
Verlass dich nie auf andere.
Er war ein Naturtalent.
Michael O’Connell stapfte die Straße entlang zu seinem Wohnblock und dann die Treppe hoch. Wie immer wimmelte es im Flur vor seiner Tür von den miauenden Viechern seiner alten Nachbarin. Wie immer hatte sie für die Tiere Fress-
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