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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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vermutete, dass es das letzte Mal sein könnte. Jedenfalls nicht mehr in diesem klar definierten Eltern-Kind-Verhältnis, in dem man Gefahr lief, die Probleme zu dramatisieren. Ashley war in der Lage, aus eigener Kraft da herauszufinden. Er ging sogar davon aus, dass sie auf diesem Recht bestehen würde. Ihm fiel dabei allenfalls die Rolle zu, sie von der Seitenlinie aus anzufeuern, ihr Mut zuzusprechen und den einen oder anderen bescheidenen Vorschlag zu machen.
    Beim ersten Anblick des Briefs war in ihm ein Beschützerinstinkt erwacht, der ihn an ihre Kindheit erinnert hatte. Jetzt auf seiner Fahrt zu ihr erkannte er niedergedrückt, dass seine Aufgabe wohl eher bescheiden ausfallen würde, obwohl seineÄngste sich bestätigt hatten. Vermutlich behielt er seine Gefühle am besten für sich. Andererseits war ein Teil von ihm überglücklich angesichts der Chance, einmal nicht nur von ferne Anteil am Leben seiner Tochter zu haben. Scott grinste. Erwischt mich, wenn ihr könnt, dachte er, während Baumgruppen, die noch ihr Herbstlaub trugen, am Straßenrand vorbeifegten.
     
    Ashley hörte das zweifache Hupen, warf einen raschen Blick aus dem Fenster und sah das vertraute Profil ihres Vaters in dem schwarzen Porsche. Mit einem kurzen Winken begrüßte er sie und machte ihr zugleich Zeichen, sich zu beeilen, weil er den Verkehr blockierte und es in Boston durchaus Leute gab, die angesichts lästiger Verkehrsbehinderungen gerne ein paar Takte mit dem Übeltäter redeten. Bostoner Sportsfreunde verleihen ihren Forderungen am liebsten mit Hupen oder Brüllen Nachdruck. In Miami oder Houston können bei einer solchen Konversation schon mal Feuerwaffen aufblitzen, in Boston dagegen macht man von der verbrieften Redefreiheit Gebrauch.
    Sie schnappte sich eine kleine Reisetasche und schloss sorgfältig die Wohnungstür ab. Beim Anrufbeantworter und dem Computer hatte sie den Stecker herausgezogen, das Handy war ausgeschaltet. Keine Nachrichten. Keine E-Mails. Keine Kontaktmöglichkeit, dachte sie, als sie die Treppe hinunterhastete und zur Haustür hinausschoss.
    »Hi, meine Schöne«, sagte Scott, als sie den Bürgersteig überquerte.
    »Hi, Dad«, antwortete Ashley. Sie lächelte. »Lässt du mich fahren?«
    »Tja«, überlegte Scott, »vielleicht das nächste Mal …«
    Das war ein alter Witz zwischen ihnen. Scott ließ grundsätzlich niemanden hinter das Lenkrad seines Porsche. Er schobversicherungstechnische Gründe vor, doch darauf fiel Ashley nicht herein.
    »Ist das alles, was du brauchst?«, fragte Scott, als er die kleine Tasche sah.
    »Ja. Hab sowieso genug Sachen drüben, bei dir und bei Mom.« Scott schüttelte den Kopf und umarmte sie lächelnd. »Ich entsinne mich noch sehr gut an Zeiten«, erklärte er in gespielt feierlichem Ton, »als es Schrankkoffer, Reisetaschen und riesige Armeerucksäcke zu tragen gab, die alle mit vollkommen überflüssigen Klamotten vollgestopft waren, nur um ganz sicherzugehen, dass du dich mindestens ein halbes Dutzend Mal am Tag umziehen kannst.«
    Sie grinste und öffnete die Beifahrertür.
    »Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen, bevor irgendein Lieferwagen dir dein Midlife-Crisis-Spielzeug zerquetscht«, lachte sie.
    Sie lehnte sich an die lederbezogene Kopfstütze, schloss für einen Moment die Augen und fühlte sich zum ersten Mal seit Stunden ein wenig sicher. Sie atmete langsam aus und merkte, wie sie sich entspannte.
    »Danke, dass du gekommen bist, Dad.« Wenige Worte, die Bände sprachen.
    Es lenkte sie ab, mit ihrem Vater zu reden, während er sich mit dem kleinen Wagen in den Verkehr einfädelte. Er hätte die Gestalt, die in den Schatten eines Baumes trat, als sie daran vorüberfuhren, natürlich nicht erkannt. Ihr wäre sie auf keinen Fall entgangen, hätte sie die Augen offen gehalten und wäre sie wachsamer gewesen.
    Michael O’Connell starrte ihnen nach und prägte sich den Wagen, den Fahrer sowie das Kennzeichen ein.
     

     
    »Hören Sie sich jemals Liebeslieder an?«, fragte sie.
    Die Frage kam überraschend, und ich zögerte einen Moment mit meiner Antwort.
    »Liebeslieder?«
    »Ja. Liebeslieder. Sie wissen schon,
Yummy, yummy, yummy, I’ve got love in my tummy
, oder meinetwegen
Maria … I’ve just met a girl named Maria
, mir fallen unzählige ein …«
    »Eigentlich nicht«, antwortete ich. »Ich meine, mehr oder weniger tut das vermutlich jeder. Drehen sich nicht neunundneunzig Prozent aller Songs, ob Pop, Rock, Country, was weiß ich, sogar Punk,

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