Das Opfer
soll daran …«
Sie schnitt mir das Wort ab, indem sie wie ein Verkehrspolizist eine Hand in die Höhe hielt, während sie mit der anderen nach einem Glas Eistee griff. Sie trank, bevor sie mir antwortete.
»Sie müssen das nüchtern sehen, sonst ergibt die ganze Geschichte keinen Sinn.«
Ich erwiderte nichts.
»Sterben«, sagte sie nach einer Weile, »ist eine höchst simple Angelegenheit. Aber Sie müssen begreifen, dass all die kleinen Augenblicke bis dahin und all die Minuten danach entsetzlich kompliziert sind.«
11
Die erste Reaktion
Sally war erstaunt, dass die Haustür sperrangelweit offen stand. Nameless lag im Eingangsbereich platt am Boden, weder schlafend noch wachsam, sondern mehr oder minder beides zugleich. Er hob den Kopf und klopfte mit dem Schwanz, als er Sally kommen sah. Sie bückte sich und streichelte ihn einmal kurz hinter den Ohren. Viel weiter ging ihre Beziehung zu dem Haustier nicht. Sie hegte den Verdacht, dass Nameless, wäre Jack the Ripper mit einem großen Hundekuchen in der einen und einem blutigen Messer in der anderen Hand hereinspaziert, sich an den Hundekuchen gehalten hätte.
Sie konnte die letzten Worte einer Unterhaltung hören, als sie die Aktentasche in dem kleinen Vorraum abstellte.
»Ja, ja. Gut. Hab ich verstanden. Wir rufen dich noch heute Abend zurück. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut. Klar. Also, bis dann.«
Sally hörte, wie das Telefon auf den Sockel fiel, Hope tief durchatmete und stöhnte: »Gott im Himmel.«
»Was ist los?«, fragte Sally.
Hope fuhr herum. »Ich hab dich nicht kommen hören …«
»Du hast offenbar die Tür aufgelassen.« Sally warf einen Blick auf die Joggingkleidung. »Wolltest du gerade raus oder kommst du gerade zurück?«
Hope ignorierte die Frage ebenso wie Sallys Ton und sagte: »Das war Ashley. Sie ist ziemlich aufgelöst. Offenbar hat sie sich in Boston wirklich mit einem unheimlichen Typen eingelassen, und jetzt bekommt sie Angst.«
Sally schwieg einen Moment, bevor sie nachhakte: »Was genau soll ich unter ›irgendwie eingelassen‹ verstehen?«
Hope antwortete: »Das solltest du dir von ihr selbst erklären lassen. Aber soweit ich es verstehe, hatte sie einen One-Night-Stand mit dem Kerl, und jetzt wird sie ihn nicht mehr los.«
»Geht es um denselben Burschen, der den Brief geschrieben hat, den Scott bei ihr fand?«
»Sieht so aus. Er überhäuft sie mit irrationalen Beteuerungen im Stil von
Wir sind füreinander bestimmt
. Es klingt, als wäre der Kerl nicht ganz dicht, aber du solltest dir das Ganze wirklich lieber von Ashley erzählen lassen. Es wirkt, ich weiß nicht, sehr viel realer, wenn du es von ihr hörst.«
»Also, vermutlich macht sie nur aus einer Mücke einen Elefanten, aber …«
Hope unterbrach sie. »So klang es für mich allerdings nicht. Okay, wir wissen beide, dass sie dazu neigt, die Dinge zu dramatisieren, aber ich glaube, sie war wirklich ziemlich aufgelöst. Ich denke, du solltest sofort zurückrufen. Tut ihr bestimmt gut, von ihrer Mutter zu hören und sich trösten zu lassen.«
»Hat der Kerl sie geschlagen? Oder bedroht?«
»Nicht direkt. Ja und nein, ist nicht so leicht zu sagen.«
»Was soll das nun wieder heißen, nicht direkt?«, fragte Sally mit Nachdruck.
Hope schüttelte den Kopf. »Ich will damit sagen,
Ich bring dich um
ist eine Drohung. Aber
Wir werden für immer zusammen sein
kann auf dasselbe hinauslaufen. Es ist einfach schwer zu sagen, bis du es mit eigenen Ohren hörst.«
Hope war ein wenig verblüfft. Sally reagierte entschieden cool und irritierend ruhig auf das, was sie hörte. Das überraschte sie. »Ruf Ashley an«, wiederholte sie.
»Wahrscheinlich hast du recht!«, sagte Sally und ging zum Telefon.
Scott versuchte, Ashley über das Festnetztelefon zu erreichen, doch zum dritten Mal an diesem Abend war besetzt, und er wurde zur Mailbox umgeleitet. Er hatte es bereits über ihr Handy versucht, doch auch da schlug ihm nur ihre muntere Aufforderung entgegen, eine Nachricht zu hinterlassen. Er war mehr als irritiert. Was nützt einem all die neue Kommunikationstechnik, dachte er, wenn sie ihren Zweck nicht besser erfüllt? Wenn man im achtzehnten Jahrhundert einen Brief aus beträchtlicher Ferne bekam, dann wurde er verdammt noch mal ernst genommen.
Bevor sein Frustpegel weiter stieg, klingelte das Telefon.
»Ashley?«, fragte er hastig.
»Nein, Scott, ich bin’s, Sally«, kam die Antwort.
»Sally«, wiederholte er ihren Namen. »Ist
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