Das Opfer
irgendwie um Liebe? Eine verlorene Liebe. Unerwiderte Liebe. Glückliche Liebe, unglückliche Liebe. Ich verstehe nicht ganz, was das mit unserem Thema zu tun hat …«
Ich war ein bisschen verärgert. Ich wollte herausfinden, was Ashley als nächsten Schritt geplant hatte. Und ganz gewiss wollte ich besser verstehen, wie Michael O’Connell tickte.
»Die meisten Liebeslieder handeln gar nicht von Liebe. Es geht um eine Menge andere Dinge, aber vor allem um Frustration. Um sexuelle Lust vielleicht. Um Begierde. Sehnsucht. Enttäuschung. Selten geht es dabei um die Liebe an sich, das heißt um das, was übrigbleibt, wenn man all diese anderen Aspekte außer Acht lässt – um gegenseitige Verlässlichkeit. Das Problem ist, dass wir das zu oft aus dem Blick verlieren, weil wir uns zu sehr auf andere Dinge fixieren, die wir dann für das Ein-und-Alles unserer Gefühle halten.«
»Meinetwegen«, stimmte ich langsam zu. »Und Michael O’Connell?«
»Für ihn war Liebe gleichbedeutend mit Wut. Mit Zorn.«
Ich sagte nichts.
»Und das war für ihn so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen.«
13
Das geringste aller Ziele
Das Röhren des Sportwagens wiegte Ashley fast augenblicklich in den Schlaf. Fast eine Stunde lang rührte sie sich nicht mehr, dann öffnete sie abrupt die Augen und rappelte sich, etwas desorientiert, mit einem leichten Schnaufer hoch. Scott sah, wie sie gehetzt um sich blickte und ein, zwei Sekunden mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, bevor sie sich wieder in den ergonomisch geformten Sitz zurückfallen ließ. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Du liebe Güte«, seufzte sie. »Bin ich weggetreten?«
Scott ging darauf nicht ein. »Müde?«
»Ja, schon«, sagte sie. »Vielleicht auch nur zum ersten Mal seit Stunden richtig entspannt. Es überkam mich einfach. Fühlt sich seltsam an. Weder gut noch schlecht. Nur seltsam.«
»Möchtest du jetzt darüber reden?«
Ashley schien ein wenig zu zögern, so als ob mit jeder Meile, die sich im Rückspiegel zwischen sie und Boston legte, auch die Probleme, in denen sie steckte, in die Ferne rückten und immer kleiner wurden. Scott stellte eine weitere Frage, bevor sie reagierte.
»Vielleicht solltest du mir erst mal sagen, was du deiner Mom und ihrer Lebensgefährtin erzählt hast«, schlug er ruhig vor und wusste sehr wohl, wie gestelzt und förmlich er Sally und Hope tituliert hatte. »Dann haben wir wenigstens alle denselbenInformationsstand, was ich sinnvoll fände«, fügte er hinzu. »Dann können wir die Köpfe zusammenstecken und einen Plan schmieden, wie du vielleicht am besten weiter verfährst.« Er war sich nicht sicher, ob Ashley tatsächlich nach Hause kam, um die nächsten Schritte vorzubereiten, aber sicherlich entsprach ein solcher Vorschlag dem, was sie von ihm erwarten würde, und allein das schon war vermutlich beruhigend.
Ashley schwieg eine Weile, schauderte und begann zu erzählen: »Verwelkte Blumen. Verwelkte Blumen, die vor meiner Wohnung an die Wand geklebt waren. Und dann ist er mir gefolgt, statt sich, wie verabredet, mit mir in einem Restaurant zu treffen, in dem ich ihn endgültig loswerden wollte, es kam mir so vor, als wäre ich ein Tier und er der Jäger, der mir immer näher kommt …« Sie hielt inne, sah aus dem Seitenfenster, als müsse sie erst ihre Gedanken ordnen, um wieder Klarheit hineinzubringen, bevor sie mit einem Stoßseufzer hinzufügte: »Am besten fange ich ganz vorne an, damit du alles verstehst …«
Scott verlangsamte auf die vorschriftsmäßige Geschwindigkeit und wechselte auf die rechte Spur, die für den Porsche ganz ungewohnt war.
Ohne ein Wort zu sagen, hörte er zu.
Als sie die kleine College-Stadt erreichten, in der Scott lebte, hatte Ashley ihm über die Beziehung, falls das Wort nicht zu hoch gegriffen war, zu Michael O’Connell ziemlich erschöpfend Auskunft gegeben. Das erste Kennenlernen hatte sie geschönt, da es ihr peinlich war, mit ihrem Vater über Alkohol und ihr Sexleben zu sprechen. Sie hatte diese Dinge mit harmlosen Euphemismen umschrieben, wie etwa,
danach waren wir zusammen
und
wir hatten einiges intus
, statt sich deutlicher auszudrücken.
Scott verstand auch so sehr genau, was vorgefallen war, verkniff sich aber, allzu penetrant nachzuhaken. Vermutlich gab es Einzelheiten, die er sich lieber ersparte.
Nachdem sie den Highway verlassen hatten, wechselte er ein, zwei Mal den Gang und bretterte über die Landstraßen weiter. Ashley hüllte sich
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