Das Opfer
wieder in Schweigen und starrte aus dem Fenster. Inzwischen war es heller Tag unter einem hohen, blassblauen Himmel.
»Es ist schön«, erklärte sie, »mal wieder zu Hause zu sein. Wenn einen so viel andere Sachen beschäftigen, vergisst man, wie gut man einen Ort kennt. Und dann ist man auf einmal wieder daheim: derselbe alte Anger. Dasselbe alte Rathaus. Die Restaurants. Cafés. Die Kids, die auf dem Rasen Frisbee spielen. Man könnte meinen, dass die ganze Welt in Ordnung sein muss.« Sie atmete mit einem Schnauben aus. »Also, Dad, jetzt weißt du alles. Was hältst du davon?«
Scott versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen, hinter dem er den Aufruhr seiner Gefühle verbergen konnte.
»Ich denke, wir sollten einen Weg finden, Mr. O’Connell eine Absage zu erteilen, ohne uns zu viel Ärger einzuhandeln«, erwiderte er, auch wenn nicht viel Überzeugungskraft dahintersteckte. Dennoch gab er sich optimistisch. »Vielleicht muss man wirklich nur mit ihm reden. Vielleicht brauchst du aber auch Distanz. Das könnte dich Zeit kosten, bevor du mit deinem Graduiertenstudium beginnst. So kann es im Leben kommen. Es läuft nicht immer glatt. Aber ich bin sicher, wir kriegen das geregelt. Er klingt nicht ganz so bedrohlich, wie ich ursprünglich dachte.«
Ashley schien etwas freier zu atmen. »Meinst du?«, fragte sie. »Aber sicher. Ich wette, deine Mom sieht das genauso. Weißt du, in ihrer Kanzlei ist sie ganz schön taffen Burschen begegnet, bei den Scheidungsverfahren zum Beispiel oder den Fällenvon Kleinkriminalität. Und sie hat einiges an Missbrauch zu sehen bekommen, auch wenn das unseren Fall meiner Meinung nach nicht zutreffend beschreibt. Sie ist also ziemlich kompetent, wenn es darum geht, mit solchen Dingen fertig zu werden.«
Ashley nickte.
»Ich meine, er hat dich nicht geschlagen, oder?«
Scott stellte die Frage, obwohl Ashley sie bereits beantwortet hatte.
»Hab ich doch schon gesagt, nein. Er behauptet nur, wir wären füreinander geschaffen.«
»Nun ja«, sagte Scott, »auch wenn ich nicht weiß, wer ihn geschaffen hat, weiß ich zumindest, wer dich geschaffen hat, und ich bezweifle doch sehr, dass es ihm zuliebe war.«
Ein zartes Lächeln huschte über Ashleys Gesicht.
»Und glaub mir«, schob Scott einen zweiten Scherz hinterher, um sie noch ein bisschen aufzuheitern, »das scheint mir kein Problem zu sein, das ein hochgeachteter Historiker nicht lösen könnte. Ein bisschen Recherche. Vielleicht ein paar originale Dokumente oder Augenzeugenberichte. Primärquellen. Feldarbeit, und wir sind dicht am Ball.«
Ashley brachte ein verhaltenes Lachen zustande. »Dad, hier geht es nicht um eine wissenschaftliche Arbeit …«
»Nicht?«
Sie musste wieder lächeln. Scott drehte sich ein wenig auf seinem Sitz zu ihr um, eben genug, um ihr ganzes Lächeln aufzufangen, das ihn an unzählige Momente erinnerte und kostbarer war als alles andere in seinem Leben.
Samstag war an Hopes Privatschule Sporttag, und so war sie hin- und hergerissen, ob sie zum Campus fahren oder auf Scott und Ashley warten sollte. Aus Erfahrung wusste sie, dass dieMorgensonne das Spielfeld nur ungenügend trocknen würde, und so rechnete sie für den Nachmittag mit einer Schlammschlacht. Noch vor einer Generation war die Vorstellung, Mädchen im Dreck spielen zu sehen, derart fremd, dass das Spiel wahrscheinlich abgesagt worden wäre. Heute dagegen freuten sich die Mädchen eher auf einen matschigen Boden. Verschmiert und verschwitzt galt heute als positiv. Fortschritt, der sich an Dreck festmacht.
Sie blickte von der Wanduhr zum Fenster und wieder zurück und horchte auf das unverkennbare Geräusch von Scotts Wagen, wenn er an der Ecke den Gang herunterschaltete und das letzte Stück zu ihrem Häuserblock herangefahren kam. Nameless wartete an der Tür. Zu alt, um ungeduldig zu sein, aber dennoch nicht bereit, zurückzubleiben. Er kannte den Satz,
Lust auf ein Fußballspiel?
, und sooft er ihn hörte, selbst im Flüsterton, erwachte er augenblicklich aus einem nahezu komatösen Zustand zu einem wilden Freudentaumel.
Die Fenster standen einen Spaltbreit offen, und sie hörte Geräusche aus den Nachbarhäusern, die so typisch für einen Samstagmorgen waren, dass sie allzu sehr dem Klischee entsprachen: ein Rasenmäher, der stotternd angeworfen wurde; ein Laubbläser mit seinem jaulenden Geräusch, das fröhliche Kreischen spielender Kinder in einem nahe gelegenen Garten. Es war nur schwer vorstellbar, dass irgendwo
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