Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
freundlich im Umgang, kam es ihr so vor, als gäbe es zwischen ihnen einen Knoten, der sich immer fester zuzog, während er ein Segel straff hielt, das in heftigen Böen flatterte. Catherine Frazier war in Vermont verwachsen und grenzenlos liberal in ihren politischen Ansichten, bis auf einen einzigen Punkt – den entscheidenden für ihre Tochter. Sie war eine treue Anhängerin der katholischen Kirche im kleinen StädtchenPutney, nicht weit vom benachbarten Brattleboro, ebenso bekannt für seine Exhippies wie für sein Granola-Müsli. Sie war eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes nie wieder ans Heiraten gedacht hatte und jetzt glücklich und zufrieden allein am Waldrand lebte. Sie hegte nach wie vor beträchtliche Zweifel an der Beziehung ihrer Tochter zu Sally. Auch wenn sie ihre Vorbehalte in einem Bundesstaat, der gleichgeschlechtliche Ehen willkommen hieß, für sich behielt, so betete sie doch jeden Sonntagmorgen um eine Eingebung, die ihr begreiflich machte, was ihre Beziehung über die Jahre belastet hatte. Früher hatte sie die Sache zuweilen im Beichtstuhl zur Sprache gebracht, doch sie war es leid, »Gelobet seist du, Maria« und »Vaterunser« zu beten, die ihr kaum Erleichterung verschafften.
    Nach Hopes Ansicht rührten die Spannungen daher, dass sie nicht »normal« war und ihrer Mutter keine Enkelkinder schenken konnte, und ob sie nun miteinander redeten oder ob Schweigen zwischen ihnen herrschte, die Spannungen nahmen in jedem Fall zu, denn das entscheidende Thema klammerten sie aus.
    »Ich muss dich um einen Gefallen bitten«, begann Hope.
    »Jederzeit, Liebes«, erwiderte Catherine.
    Hope wusste, dass das gelogen war. Es hatte schon Gelegenheiten gegeben, bei denen ihre Mutter ihr durchaus eine Bitte abgeschlagen hätte.
    »Es geht um Ashley«, erklärte Hope. »Sie muss für eine Weile aus Boston heraus.«
    »Aber was ist denn passiert? Sie ist doch nicht etwa krank, oder? Es hat keinen Unfall gegeben?«
    »Nein, nicht direkt …«
    »Braucht sie Geld? Ich hab mehr als genug, und ich helfe gerne aus …«
    »Nein, Mutter, ich will es dir erklären.«
    »Aber was ist mit ihrem Studium?«
    »Das wird sie ein Weilchen auf Eis legen müssen.«
    »Liebes, das klingt sehr verwirrend. Wo liegt das Problem?«
    Hope holte tief Luft und platzte heraus: »Es geht um einen Mann.«
     
    Als Scott an diesem Abend versuchte, Ashley auf dem Handy anzurufen, hörte er nur: »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, was ihn augenblicklich in Panik versetzte. Er rief sie auf dem Festnetztelefon an, und als sie sich meldete, überkam ihn eine weitere Woge der Beklemmung. Er konzentrierte sich darauf, sich die Angst nicht anmerken zu lassen.
    »Hey, Ash«, begrüßte er sie forsch. »Wie geht’s, wie steht’s?«
    Ashley ihrerseits wusste nicht recht, was sie antworten sollte. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie beobachtet und dass jedes Wort, das sie sagte, abgehört wurde. Sie zögerte jedes Mal, wenn sie ihre Wohnung verließ, fühlte sich draußen auf der Straße nicht sicher, sah misstrauisch in jede Sackgasse und jeden verschatteten Winkel. Gewöhnliche Großstadtgeräusche, mit denen sie sonst so vertraut war, dröhnten ihr schrill in den Ohren.
    Sie entschloss sich zu einer Halbwahrheit. Sie wollte ihren Vater nicht ängstigen.
    »Geht so«, sagte sie. »Ist nur alles eine blöde Situation.«
    »Hast du noch mal von O’Connell gehört?«, fragte er.
    Sie antwortete nur indirekt, indem sie meinte: »Dad, ich muss ein paar Schritte unternehmen …«
    »Ja«, stimmte er etwas hastig zu. »Unbedingt.«
    »Ich hab das Handy abgemeldet …«, berichtete sie, was die Durchsage erklärte.
    »Ja, und diese Leitung musst du auch abmelden. Um ehrlichzu sein, musst du wohl einiges mehr tun, als wir geahnt haben.«
    »Ich muss umziehen«, sagte sie verdrießlich. »Ich mag diese Wohnung, aber …«
    »Ich glaube«, führte Scott den Satz behutsam weiter, »dass du mehr tun musst, als einfach nur umzuziehen.«
    Ashley antwortete nicht sofort.
    »Und wir müssen noch ein paar Schritte unternehmen …«, fuhr er fort.
    »Wie meinst du das?«, platzte Ashley heraus.
    Scott holte tief Luft und wechselte in den nüchternsten, selbstverständlichsten, akademischen Ton, als ginge es darum, die Fehler im Referat eines fortgeschrittenen Studenten aufzuzeigen. »Ich habe ein bisschen gelesen und recherchiert. Ohne übereilte Schlüsse ziehen zu wollen, fürchte ich, dass O’Connell fähig ist, nun ja, noch

Weitere Kostenlose Bücher