Das Opfer
ihm die Kehle zugeschnürt war, drehte er sich um und ließ sämtliche Papiere liegen. Er rannte mitten durch die Kartothek, an der Auskunftsstelle und den Bibliothekaren vorbei, die ihn schockiert beobachteten. Noch keiner von ihnen hatte jemanden gesehen, den das bloße gedruckte Wort in solche Angst versetzte. Einer versuchte, ihm etwas hinterherzurufen, doch Scott hörte ihn nicht mehr, als er in den wolkenverhange nen Novembernachmittag hinausstürmte. Dabei war die Luft weniger eisig als dieses Gefühl in seiner Brust. Er wusste nur eins – dass er Ashley so schnell wie möglich aus der Schusslinie holen musste.
Auch Sallys Tag begann mit Entscheidungen, die sie für absolut
vernünftig
hielt.
Für sie stand als Erstes auf der Geschäftsordnung, sich ein Bild davon zu machen, was für eine Persönlichkeit durch ihre Tochter in ihr Leben eingedrungen war. Dass er sich mit Computernauskannte und jeden von ihnen durch seine Manipulationen empfindlich geschädigt hatte, schien nur offensichtlich. Sie verwarf den spontanen Gedanken, mit sämtlichen Informationen zur Polizei zu gehen, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht sicher war, ob die viel mehr tun würde, als ihr geduldig zuzuhören, aber auch, weil sie fürchtete, die Inte grität ihrer Anwalt-Klienten-Beziehung zu belasten. Vorerst, dachte sie, war es keine gute Idee, die Polizei einzuschalten.
Ihr wurde angst und bange bei dem Gedanken, dass O’Connell, falls er wirklich hinter allem stand, wovon sie noch nicht hundertprozentig überzeugt war, dass dieser Mensch über ein derart feines Sensorium verfügte. Das war gefährlich. Er schien zu wissen, wie er Menschen auch ohne Fäuste oder Waffen verletzen konnte, auf eine Art und Weise, die schwer zu fassen war. Das machte ihr Angst. Die Vorstellung, dass er wusste, wie er sie ins Unglück stürzen konnte, ließ sie erstarren.
Andererseits, rief sie sich ins Gedächtnis, war O’Connell ihnen nicht wirklich gewachsen.
Genauer gesagt, war er ihr nicht gewachsen. Bei Scott war sie sich da nicht so sicher. Die jahrelange Arbeit in den kultivierten Kreisen einer kleinen philosophischen Fakultät hatte ihm die kantige Zähigkeit genommen, die sie zu Beginn ihrer Ehe angezogen hatte. Zu einer Zeit, als so etwas nicht gut angesehen war, entschied er sich für den Krieg, und er hatte sich mit einer Entschlossenheit ins Studium gestürzt, die sie unwiderstehlich fand. Nachdem er seinen Doktor gemacht, nachdem sie geheiratet und Ashley bekommen hatten und sie selbst begann, Jura zu studieren, hatte sie registriert, dass er weicher geworden war. Als ob die bevorstehenden mittleren Jahre sich nicht nur in seiner Taille, sondern auch seiner Haltung niedergeschlagen hätten.
»Also gut, Mr. O’Connell«, sagte sie laut, »Sie haben sich mitder falschen Familie angelegt. Jetzt werden Sie ein paar kleine Überraschungen erleben.«
Sie drehte sich um, warf sich in einen Sessel und griff nach dem Telefon. Sie fand die gewünschte Nummer in ihrem Verteiler und tippte sie schnell ein. Sie brachte sogar die nötige Geduld auf, als eine Sekretärin sie in die Warteschleife verwies. Als sie am anderen Ende die vertraute Stimme hörte, fühlte sie sich gleich besser.
»Murphy am Apparat. Was kann ich für Sie tun, Frau Anwältin?«
»Hallo, Matthew«, begrüßte ihn Sally. »Ich habe ein Problem.«
»Na ja, Ms. Freeman-Richards, das ist der einzige Grund auf der Welt, weswegen die Leute diese Nummer wählen. Wozu sollten sie sich sonst an einen Privatdetektiv wenden? Also, was darf’s diesmal sein? Sagen Sie nicht, in Ihrer hübschen kleinen Stadt liegt ein Scheidungsfall an. Gestaltet sich vielleicht ein klitzekleines bisschen fieser als gedacht?«
Sally sah Matthew Murphy vor ihrem geistigen Auge an seinem Schreibtisch. Er hatte sein Büro in einem etwas schmuddeligen alten Gebäude in Springfield, ein paar Häuserblocks vom Bundesgerichtshof entfernt am Rande einer ziemlich heruntergekommenen Gegend. Murphy schätzte vermutlich die Anonymität, die ihm diese Umgebung verschaffte. Ins Auge fallender Protz war seine Sache nicht.
»Nein, kein Scheidungsfall, Matthew …«
Sie hätte ein paar bedeutend exklusivere Privatdetektive anrufen können. Doch Murphy verfügte über eine weitaus schillerndere Vergangenheit und eine harte Gangart, die sich in diesem Fall als nützlich erweisen konnten. Außerdem hoffte sie, dass die Gefahr, am Bezirksgericht für Geschwätz zu sorgen, beträchtlich geringer war, wenn sie
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