Das Opfer
Herausforderung entgegenzusetzen?«
»Gute Frage, ja, was?«
»Das müssen Sie begreifen«, erklärte sie. »Nicht nur das, was sie planten und was sie in die Tat umsetzten, sondern auch, woher sie die Kraft und die intellektuellen Einsichten nahmen.«
»In Ordnung«, sagte ich zögernd.
»Denn am Ende zahlen sie einen hohen Preis.«
Ich sagte nichts.
Sie beendete das Schweigen. »Im Nachhinein sieht es immer so einfach aus. Aber wenn man mittendrin steckt, ist alles ziemlich verworren und nie so sauber und eindeutig, wie wir es gerne hätten.«
21
Eine Reihe möglicher Fehltritte
Je mehr Scott las, desto entsetzter war er.
Direkt am Morgen nach dem höchst unbefriedigenden Treffen mit Sally und Hope hatte er sich, wie es sich für einen Akademiker gehörte, in das Studium der Phänomene gestürzt, für die Michael O’Connell stand. Er hatte sich in die Niederungen der städtischen Bücherei begeben und Literatur zu zwanghaften und obsessiven Verhaltensstörungen herausgesucht. Auf seinem Tisch in der Ecke des Lesesaals stapelten sich Bücher, Magazine und Zeitungen. Eine drückende Schwere lastete auf dem Raum, und Scott hatte plötzlich das Gefühl, als bekäme er kaum Luft.
In einem Anflug von Panik schlug sein Herz so schnell, als wollte es zerspringen. Was er an diesem Vormittag in sich aufgenommen hatte, war eine Litanei der Verzweiflung.
Es war ein Exkurs in den Tod. Immer und immer wieder hatte er von dieser Frau hier und jener Frau dort, von jung bis alt, gelesen, die für einen Mann zur ungezügelten Obsession geworden war. Sie alle hatten gelitten. Die meisten wurden ermordet. Selbst die Überlebenden waren für immer gezeichnet.
Dabei schien es keinen Unterschied zu machen, wo die Frauen lebten. Im Norden oder Süden, in den Vereinigten Staaten oder irgendeinem anderen Land. Einige waren noch jung, Studentinnenwie Ashley. Andere waren älter. Reich, arm, gebildet oder unterprivilegiert, das alles spielte keine Rolle. Ein paar von ihnen waren mit ihren Stalkern einmal verheiratet gewesen. Andere Kolleginnen. Wieder andere Klassenkameraden. Einige waren Liebhaber gewesen. Sie hatten nichts unversucht gelassen, hatten sich an die Behörden gewandt, ihre Familie, Freunde und alle möglichen anderen Menschen bei ihrem verzweifelten Versuch, sich von dieser unerwünschten, gnadenlos obsessiven Aufmerksamkeit zu befreien, um Hilfe gebeten. Er las: unbeirrbare Begierde.
Alle hatten sie vergeblich Hilfe gesucht.
Sie wurden erschossen, erstochen, zusammengeschlagen. Einige hatten überlebt, die Mehrheit nicht.
Manchmal starben zusammen mit ihnen auch Kinder. Manchmal ließen Kollegen oder Nachbarn ihr Leben, ein Kollateralschaden der Wut.
Scott schauderte unter der Informationsflut. Ihm wurde schwin delig, wenn er daran dachte, in was für einer Falle Ashley saß. Seite um Seite, in jedem Buch und jedem Artikel war
Liebe
der einzige gemeinsame Nenner.
Natürlich war ihm klar, dass es nicht um echte Liebe ging. Es war vielmehr etwas zutiefst Perverses, das aus den düstersten Winkeln einer kranken männlichen Vorstellungskraft rührte. Es war etwas, das seinen Platz in forensischer Psychiatrie verdiente, nicht auf Valentinspostkarten. Doch die Art Liebe, über die er las, schien in jedem dieser Fälle hartnäckig Fuß gefasst zu haben, und das machte ihm noch mehr zu schaffen.
Scott griff sich ein Buch nach dem nächsten, las eine Geschichte, eine Tragödie nach der anderen – in der Hoffnung, dass wenigstens eine ihm sagte, wo ein Ausweg lag. Er überflog die Seiten, die er hastig weiterblätterte, bis er ein Buch weglegte und sich gleich das nächste vornahm und dort mit wachsenderSorge von vorne nach der Antwort suchte. Als Historiker, als Akademiker glaubte er, dass die Lösung irgendwo in einem Abschnitt stand. Er lebte in einer Welt der Vernunft, der klar gegliederten Argumente. Irgendwo in dieser Welt musste Hilfe zu finden sein.
Je mehr er sich das einredete, desto klarer wurde ihm, dass seine Suche fruchtlos war.
Scott stand auf, indem er den schweren Eichenstuhl so heftig vom Tisch zurückschob, dass er zu Boden krachte und wie ein Schuss die Stille des Raumes zerriss. Er fühlte mit einem Schlag, wie in seinem Rücken aller Augen auf ihn gerichtet waren, doch er taumelte von seinem Tisch wie ein Verwundeter – schwindelig, eine Hand an der Brust. In diesem Moment empfand er nur noch Panik. Mit einer fahrigen Bewegung deutete er auf all seine Recherchen, und als er merkte, dass
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