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Das Opfer

Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vadim Panov
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zeigte die Stadt ihr zweites Gesicht und hinter den Fassaden der modernen Metropole erkannte der Eingeweihte die Verborgene Stadt, jene archaische Bastion von Zauberei und Magie, die bereits Jahrtausende vor der Geburt der menschlichen Zivilisation errichtet worden war. Doch die Verborgene Stadt wusste sich zu tarnen, und die Moskauer ahnten nichts von jener Schattenwelt, die sich mitten in der Hauptstadt verbarg.
    Artjom warf einen Blick auf die junge Frau, die er gerettet hatte. Sie war sehr jung, vielleicht Anfang zwanzig, saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und starrte auf ihre nackten Knie – ziemlich hübsche Knie übrigens, wie der Söldner befand.
    »Wie fühlst du dich?«
    »Geht schon«, erwiderte die junge Frau einsilbig, ohne den Kopf zu heben.
    Kein Wunder, dass sie nicht gesprächig ist, dachte Artjom. Sie muss sich erst einmal beruhigen nach dem Schock. Dem Söldner fiel ein, dass auch seine Abenteuer mit einer solchen Fahrt durch die nächtliche Stadt begonnen hatten. Zwar nicht in einem riesigen Jeep, sondern in einem gebrauchten Golf, doch das waren dann schon Details. Jene Fahrt hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ob diese Fahrt auch das Leben der jungen Frau verändern würde?
    Artjom rieb sich die linke Schulter. Die schwarze Tätowierung prickelte ein wenig. Sicher reagierte sie auf den Kopf des Wandelwesens, der auf dem Rücksitz lag.
    »Hast du mal Feuer?«, fragte die junge Frau. Sie nahm eine weiße Packung Davidoff Slims aus ihrem Rucksack und zog eine der dünnen Zigaretten heraus.
    In der Verborgenen Stadt wurde nicht geraucht, und auch Artjom hatte diesem Laster vor geraumer Zeit entsagt.
    »Ich rauche nicht.«
    »Gibt’s denn hier keinen Zigarettenanzünder?«
    »Das Auto gehört mir nicht, und der Besitzer erlaubt nicht, dass man hier drinnen raucht. Tut mir leid.«
    »Ist er ein Sportler?«
    »Amateursportler.«
    »Verstehe.«
    Die junge Frau warf die Zigarette aus dem Fenster und nahm eine bequemere, weniger verkrampfte Sitzposition ein, so dass Artjom mehr von ihr zu sehen bekam: schlanke Figur, schöne Beine, blond gefärbtes, schulterlanges Haar, volle Lippen, kleine Nase mit leicht nach oben gebogener Spitze, ziemlich große Augen. Ob man sie hübsch fand oder nicht, war Geschmackssache, jedenfalls sah sie ganz passabel aus. Offenbar hatte sie Sport getrieben, bevor sie der Morjane in die Arme gelaufen war: Sie trug ein enges Top und ebensolche Shorts, dazu eine schwarze Perlenkette – vermutlich billiger Modeschmuck.
    Durch das geöffnete Fenster strömte kühle Luft in den Innenraum, und Artjom schaltete die Heizung auf niedrigster Stufe ein.
    »Wohin fahren wir?«
    »Ich muss noch eine Kleinigkeit erledigen, dann bringe ich dich nach Hause.«
    »Bist du immer so nett?«
    »Nur in außergewöhnlichen Situationen.«
    Tatsächlich hätte Artjom die junge Frau am liebsten an der nächsten Kreuzung aussteigen lassen, um nach dem Abstecher zu den Erli-Mönchen gleich nach Hause fahren zu können. Er hatte einen anstrengenden Abend hinter sich und war todmüde. Andererseits konnte er die verschreckte junge Frau nicht mitten in der Nacht auf die Straße setzen. So etwas gehörte sich einfach nicht.
    »Wo wohnst du?«
    »In der Jablotschkow-Straße.«
    Das fehlte noch! Am anderen Ende der Stadt. Sollte er sie nicht doch aussteigen lassen?
    »Vielen Dank übrigens«, sagte die junge Frau beiläufig. »Du hast mir echt den Hals gerettet vorhin.«
    »Keine Ursache.« Also sei’s drum, beschloss der Söldner, ich bringe sie nach Hause. »Wie heißt du?«
    »Olga.«
    »Ich heiße Artjom.«
    »Ich weiß.«
    »Woher?«
    Die junge Frau seufzte: »Wir haben uns schon mal getroffen.«
    »Was du nicht sagst.«
    Artjom musste gerade an einer Ampel halten und nutzte die Gelegenheit, Olga näher zu betrachten. Diese weichen Lippen und das rundliche Gesicht … Das musste vier oder fünf Jahre her sein. Genau: vor fünf Jahren. Es war auf einer Party gewesen, wo er kaum jemanden kannte. Dort hatte er das Mädchen – damals noch ein Teenager – kennengelernt. Er konnte sich sogar noch an das helle, hauchdünne Kleid erinnern, das sie damals getragen hatte. Und an ihre leuchtenden blauen Augen. Sie saßen damals nach der Party in einer Grünanlage auf einer Bank, und der berauschende Duft ihres Haars brachte ihn halb um den Verstand. Artjom hatte schon in vielen Grünanlagen auf vielen Bänken gesessen und so manche heiße Nacht erlebt, die er dann hinterher rasch wieder

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