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Das Orakel der Seherin

Das Orakel der Seherin

Titel: Das Orakel der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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Etage entdecke ich zwei schrecklich zugerichtete Leichname. Ihnen wurden die Köpfe förmlich von den Körpern gerissen.
    »Wärst du entsetzt, wenn ich dem Vogel den Kopf abreißen würde?«
    »Warum stellst du mir eine so merkwürdige frage.«
    »Um deine Antwort zu hören.«
    Der Anblick der Toten wühlt mich auf, aber gleichzeitig bringt er mich dazu, mir selbst die Frage zu stellen, was ich hier eigentlich tue. Habe ich vor, Lisa zu retten, um mein Gewissen zu beruhigen und mich von der Tatsache abzulenken, für wie viele Tode ich verantwortlich bin? Nicht, daß Lisas Leben meine Bemühungen nicht wert wäre, aber sie ist, wie James sagte, ohnehin schon so gut wie tot. Und wer wird Kalika aufhalten, wenn ich mit Lisa zusammen sterbe?
    Doch das sind Fragen, die ich mir eher aus Vernunftgründen stelle.
    Von oben höre ich Schreie. Es ist Lisa, die sich in den Klauen eines Ungeheuers befindet.
    Ich greife die Automatikwaffe fester und steige weiter die Treppen empor.
    Kalika erwartet mich in ihrem Wohnzimmer. Um zu ihr zu gelangen, muß ich über einen Berg entsetzlich zugerichteter Leichname steigen. Die Wohnung ist jetzt nicht mehr so ordentlich wie am Nachmittag, als Seymour und ich sie untersucht haben. Sowohl die Wände als auch die Decke sind rot von Blut.
    Offensichtlich hat meine Tochter ihre unerwünschten Gäste in die Wohnung gelassen, bevor sie sie auf ihre ganz spezielle Weise begrüßt hat.
    Doch Lisa lebt noch. Kalika hält sie vor sich.
    Ich richte meine Waffe auf die beiden Frauen.
    »Nur ein Feigling versteckt sich hinter einem anderen«, erkläre ich meiner Tochter.
    Kalika lächelt. Ihr Gesicht, ihre Arme, sogar ihr Haar, alles ist blutverschmiert, und gleichzeitig hat sie nie fröhlicher ausgesehen. Sie faßt Lisa fester und hebt sie dabei ein Stück vom Boden empor. Die junge Frau steht unter Schock, das erkenne ich. Trotzdem versucht sie sich gegen meine Tochter zu wehren und wimmert dabei leise vor sich hin. Ihre Bemühungen, sich zu be-freien, sind rein instinktiv. Ich bin davon überzeugt, daß Kalika ihre Psyche längst zerstört hat.
    »Wir haben das schon einmal gemacht«, erinnert sie mich. »Aber in jener Nacht hattest du keine Waffe.«
    »Ich habe nicht vor, sie wegzulegen«, entgegne ich.
    Kalika kichert. »Dann soll ich sie also jetzt gleich töten?«
    »Nein.« Ich trete einen Schritt vor. »Laß sie gehen. Zeig, daß du auch großzügig sein kannst.«
    »Laß die Waffe fallen! Zeig du deinen Mut!«
    »Dann wirst du uns beide töten.«
    »Vielleicht«, stimmt Kalika zu.
    »Du hast mich hereingelegt. Du wolltest, daß ich all die Leute zu dir lotse.
    Warum?«
    »Weißt du die Antwort auf diese Frage nicht selbst?«
    »Die Polizei wird in wenigen Minuten hier sein«, erkläre ich.
    »Die Polizei interessiert mich nicht.« Sie drückt einen ihrer scharfen Fingernägel gegen Lisas Kehle. »Ich kann nicht zulassen, daß du mich erschießt, Mutter. Ich habe noch eine Mission zu erfüllen.«
    »Was für eine Mission?«
    »Die Gerechten zu schützen und die Schlechten zu zerstören.«
    Jetzt muß auch ich grinsen. »Dafür hast du heute nacht ja ein prächtiges Beispiel gegeben.«
    »Dank dir.« Kalika preßt den Nagel in Lisas Hals. Ein Bluttropfen tritt aus und läuft langsam Lisas Kehle hinunter. Lisa, noch immer unter Schock, keucht und wehrt sich heftiger. Aber Kalikas Griff ist härter als Stahl. Als sie jetzt redet, klingt es beiläufig: »An diesen Teil der Vorstellung erinnerst du dich doch noch, Mutter?«
    Panik steigt in mir auf. Ich kann nicht zulassen, daß dieses Mädchen getötet wird. Sie ist fast eine Fremde für mich, aber ich muß sie allein Dr. Seter zuliebe retten. Wenn es mir gelingt, sie zu retten, wird auch der Doktor überleben. Ich weiß, daß sein Herz schon bald aufhören wird zu schlagen. Sie werden sehen, wie Prophezeiungen sich erfüllen. Ja, stimmt. Satanische Prophezeiungen. Wie konnte ich ihm nur ein derartiges Versprechen geben? In einem hat Kalika wirklich recht: Ich lüge, wenn es mir von Nutzen ist. Das ist eine alte Ange-wohnheit von mir.
    »Heute morgen hast du mir versprochen, daß du nur töten würdest, wenn es notwendig sei«, erinnere ich sie.
    Kalika preßt ihren Nagel ein wenig tiefer in den Hals des Mädchens. Der blutrote Faden an Lisas Kehle wird breiter. Bald wird das Blut nur so aus ihr herausströmen. Lisas Augen sind weit aufgerissen. Ihr Atem geht mühsam. Oder ist es ihr Herz, was ich da ungleichmäßig und holpernd schlagen höre?

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