Das Orakel der Seherin
Lisa steht kurz vor einer gnädigen Ohnmacht, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht ist eine flehende Bitte an mich, ihr zu helfen.
»Das hier ist notwendig«, sagt Kalika. »Leg die Waffe weg!«
»Das kann ich nicht.«
»Dann werde ich ihr die Schlagader öffnen, und sie wird genauso wie Eric sterben. Du erinnerst dich doch noch daran, wie sehr dich sein Tod aufgewühlt hat?«
Ich beginne zu zittern. »Aber diese junge Frau hat sich nichts zuschulden kommen lassen.«
»Sie ist gekommen, um mich zu töten. Das kann man kaum unschuldig nennen, oder?«
»Ich habe sie hergebracht. Es ist meine Schuld. Bitte, Kalika, laß sie um Gottes willen gehen!«
Kalika zögert. »Um Gottes willen? Wie kannst du mir so etwas sagen, nachdem du mir in die Augen geschaut hast? Erkennst du nicht, daß ich all das Gott zuliebe tue?«
Im selben Augenblick öffnet Kalika mit ihrem Nagel zwei der Hauptarterien an Lisas Hals, und das Blut schießt in heißen Strömen heraus. Aber ich habe kaum eine Chance zu reagieren – und durch Lisa hindurch auf Kalika zu schießen, die ihr menschliches Schutzschild soeben geopfert hat. Meine Tochter ist noch schneller als Eddie Fender. Lisa röchelt erstickt, als Kalika sie mit voller Kraft auf mich zustößt. Der Stoß ist fest genug, um mich stürzen zu lassen, und meine Waffe fliegt in hohem Bogen davon. Mit dem Hinterkopf schlage ich gegen die Wand, und dann verschwinden Lisa und alles um mich herum einen Moment lang. Ich spüre Blut an meinem Hinterkopf. Mit der Hand taste ich nach der Wunde, um die Schwere meiner Verletzung abzuschätzen.
Dann sehe ich im Augenwinkel eine Bewegung. Es ist meine Tochter, die jetzt die Waffe ergriffen hat. Als sie zu mir spricht, klingt ihre Stimme sanft.
»Hast du Schmerzen?« fragt sie.
Noch immer dreht sich alles um mich. Lisas Körper liegt schwer auf meinen Schienbeinen.
»Fahr zur Hölle«, murmele ich.
»Ich stehe außerhalb von Himmel und Hölle.« Sie streckt die Hand aus und ergreift meinen Arm. »Deine Freunde befinden sich im gegenüberliegenden Komplex. Wenn du mir sagst, in welcher Suite, ersparst du mir die Suche.«
Endlich gelingt es mir wieder, meinen Blick zu fokussieren. Ich starre sie an.
»Du machst Scherze«, flüstere ich.
Sie lächelt. »Ich dachte, ich versuch’s mal. Kannst du schwimmen?«
»Ja.«
»Kannst du fliegen?«
Das hört sich nach einer Fangfrage an.
Ich gebe keine Antwort. Aber es hilft nichts.
Kalika läßt die Waffe fallen, packt mich und zerrt mich nach draußen auf den Balkon, wo sie die ersten drei Mitglieder von Alpha Top niedergemetzelt hat.
Weit unter uns sehe ich ihre Körper noch immer im blutroten Wasser des Pools.
Die Polizei ist mittlerweile angekommen. Unzählige uniformierte Beamte tummeln sich dort unten, und ihre Taschenlampen sind auf uns gerichtet. Ich überlege kurz, ob ich winken soll, aber ich habe Angst, daß sie auf mich schießen. Kalika seufzt entzückt, während sie den Blick über die nächtlich erleuchtete Stadt gleiten läßt.
»Ich hab’ dir doch gesagt, daß der Ausblick wundervoll ist«, erklärt sie.
»Es freut mich wirklich, daß meine einzige Tochter so erfolgreich ist, sich so eine schöne Wohnung leisten zu können«, sage ich zuckersüß.
Kalika beugt sich vor und küßt mich auf die Wange. Ihre Lippen sind zart.
Dann flüstert sie mir mit leicht besorgter Stimme etwas ins Ohr:
»Kannst du einen solchen Sturz überleben? Sag mir die Wahrheit!«
»Ich weiß es nicht.«
Sie lehnt sich zurück und streicht mir leicht übers Haar. »Krishna liebt dich.«
Ich habe Mühe zu atmen, so fest ist der Griff, mit dem sie mich gepackt hält.
»Es ist gut, daß mich überhaupt jemand liebt«, keuche ich.
»Habe ich dir jemals gesagt, daß auch ich dich liebe?«
»Nein. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.«
»Oh.« Eine Pause folgt. »Ich muß vergessen haben, es zu tun.«
»Kalika…«
Ich habe keine Gelegenheit, den Satz zu vollenden.
Denn im nächsten Moment stürzt mich meine Tochter über die Balkonbrüstung.
Der Mond steht am Himmel, und er scheint hell. Aber ich habe keine Zeit, seinen sanften Strahlen Gelegenheit zu geben, in meinen Kopf und Körper einzudringen und mich sanft zur Erde gleiten zu lassen – so wie ich es damals tat, als die Bombenexplosion auch mich zu töten drohte. Vielleicht bin in diesen Momenten auch ich sterblich. Zumindest ist mein Sturz so schnell und ungebremst wie der eines Sterblichen. Kalika hat mich in Richtung Pool
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