Das Orakel der Seherin
nicht wahr sein!« höre ich Dr. Seter stöhnen.
James schiebt den Burschen vor sich zur Seite. »Gib mir die Waffe!«
Doch ich halte ihn auf. »Lassen Sie mich das machen!« sage ich ruhig.
Er starrt mich an. »Woher wollen Sie sich mit diesen Waffen auskennen?«
»Sie kennt sich mit vielem aus«, erklärt Seymour.
James starrt mich weiterhin an, aber schließlich überläßt er mir die Waffe.
»Bitten verfehlen Sie sie nicht«, murmelt er bitter.
Ich knie mich hinter die ausgerichtete Waffe und sehe durch das Zielfernrohr.
Kalika steht nahezu bewegungslos da, aber sie hält den Burschen noch immer vor sich. Nur ihr Gesicht ist hinter seiner rechten Schulter zu sehen. Der Laser der fixierten Waffe ist hilfreich, sogar für jemanden wie mich, der auf eine Entfernung von zwei Meilen eine Münze treffen kann. Einen Moment lang gelingt es mir, den roten Punkt genau auf Kalikas Stirn zu richten. Meine Finger liegen verschwitzt um den Abzug. Ich brauche ihn nur zu betätigen, und im nächsten Moment wird sie eine Kugel im Gehirn haben. Die Aktion könnte noch immer ein Erfolg werden – wenn man bei so vielen Toten davon reden kann.
Aber dann treffen sich unsere Blicke, und ich zögere. Sie scheint mich geradewegs anzusehen. Aber wen will ich eigentlich zum Narren halten?
Natürlich weiß sie, daß ich es bin, die sie verfolgt. Die Tatsache scheint sie zu amüsieren, denn plötzlich gleitet ein Lächeln über ihre Lippen. Ihr Mund formt ein Wort, geräuschlos, trotzdem kann ich es hören.
»Mutter.«
Einen Augenblick lang konzentriere ich mich nicht mehr. Diese Zeit nutzt Kalika für eine rasche Bewegung und verschwindet aus dem Zielfeld der Waffe.
Ich lehne mich zurück und sehe, wie sie ihr menschliches Schutzschild über den Rand des Daches schiebt. Sie wirft ihr Opfer in den Pool; möglicherweise erfreut sie der Anblick des vielen sich im Wasser ausbreitenden Blutes. Einen Moment später sehe ich nur noch rot.
In einer für menschliche Augen kaum nachvollziehbaren Geschwindigkeit ergreift sie zwei der drei noch übrigen Leute. Sie tötet sie, indem sie ihre Köpfe gegeneinanderschlägt. Als sie sie aufs Dach fallen läßt, sind ihre Gesichter zerstört und ihre Köpfe nur noch eine breiige Masse. Dann wendet sie ihre Aufmerksamkeit dem letzten Mitglied der Suzama-Society zu, und im selben Augenblick erkenne ich, wer es ist: Lisa, die Buchhalterin/Wirtschaftsprüferin, die ich am letzten Abend kennengelernt habe. Lisas Angst ist so groß, daß sie vor meiner Tochter zurückweicht, ganz bis an den Rand des Daches heran.
Doch Kalika verhindert ihren Absturz, indem sie sie im letzten Moment festhält.
James schreit mich an.
»Warum schießen Sie nicht?«
Ich lasse die Waffe sinken. »Nein. Ich kann Lisa nicht töten.«
»Lisa ist schon so gut wie tot!« schreit James. »Schießen Sie!«
Aber Kalika ist längst mit ihrer Beute verschwunden – einer Spinne gleich, die ein zappelndes Insekt mit ins tödliche Netz zieht. Das Dach ist leer – bis auf die zwei praktisch kopflosen Leichen.
Ich erhebe mich und blicke um mich in die Runde. »Bleiben Sie hier. Ich werde zu ihr gehen und mit ihr sprechen.«
Dr. Seter ergreift meinen Arm. »Sie können nicht hinübergehen. Dort hat sich ein Blutbad ereignet.«
Ich schiebe sanft seine Hand weg. »Und ich bin dafür verantwortlich.« Dann wende ich mich an Seymour. »Ich muß gehen.«
Seymour ist entsetzt über meinen Entschluß. »Aber es hat keinen Zweck.
Ich stimme ihm zu. »Das ist vermutlich die Untertreibung des Jahrhunderts.«
10.
KAPITEL
In dem Augenblick, als ich die Tür hinter mir geschlossen habe, stelle ich auf den Hypermodus um. Statt auf den Fahrstuhl zu warten, nehme ich die Treppe und erreiche das gegenüberliegende Apartmenthaus in weniger als einer Minute.
In der Ferne höre ich das Heulen von Sirenen. Die Polizei hat sich wirklich beeilt. Seit dem Beginn der Attacke sind kaum sieben Minuten vergangen.
Kalika hat so schnell reagiert, daß sie unmöglich geschlafen haben kann.
Vor dem Gebäude steht eine Gruppe spärlich bekleideter Leute in Schlafanzügen und Nachthemden. Jemand sollte das Pool-Licht abschalten, schießt es mir durch den Kopf. Die Toten im Wasser bieten einen entsetzlichen Anblick. Einige der Leute, alles Männer um die vierzig, sind bewaffnet. Sie diskutieren heftig miteinander, während ich das Gebäude betrete.
Um ins achtzehnte Stockwerk zu gelangen, nehme ich die Treppe. Zwischen der sechzehnten und siebzehnten
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