Das Orakel der Seherin
die Warnung ganz ausgesprochen hat, greift Kalika die drei Leute auf dem zweiten Balkon an. Nur meine Augen sind gut genug, um genau zu erkennen, was sie tut. Die Person, die am nächsten zur Balkontür steht, ist eine Frau mit langem roten Haar. Kalika ergreift sie und dreht ihr einfach den Kopf auf dem Hals herum. Während die Tote über die Brüstung stürzt, ergreift Kalika die Waffe der Frau und schießt den beiden anderen Personen ins Gesicht.
Der eine, ein gutaussehender Bursche, stürzt vom Balkon und landet achtzehn Stockwerke tiefer auf dem Bürgersteig. Der zweite, ein kleingewachsener dunkelhaariger Mann, kippt einfach um und stirbt. Bevor unsere beiden Scharfschützen ihre Waffen neu auf den zweiten Balkon ausrichten können, ist Kalika schon wieder in der Wohnung. Jetzt ist sie zudem im Besitz einer Automatikwaffe. James schaltet seinen Sender wieder ein.
»Alpha Bottom!« schreit er. »Ihr müßt angreifen!«
»Was ist mit Alpha Top geschehen?« will der Mann vor der Wohnungstür wissen.
»Die Leute auf dem Balkon sind ausgefallen«, sagt James und vergißt vor Aufregung sämtliche Alpha-und Over-Floskeln. »Sie ist noch drinnen. Schnappt sie euch!«
»Sagen Sie ihnen, daß sie eine Waffe hat«, fordere ich.
»Sie ist bewaffnet!« schreit James. »Alpha Top, ihr müßt runter auf die Balkone! Alpha Bottom, geht jetzt rein!«
Die vier, die sich noch auf dem Dach befinden, blicken hinab. Sie sehen die Leichen im Pool und den Toten auf dem Balkon. Auch auf dem Bürgersteig liegt ein Körper. Verständlich, daß sie keine Lust haben, sich hinabzulassen. Ich wünsche mir, daß sie sich zurückziehen, denn ich weiß, daß sie selbst auf dem Dach in großer Gefahr sind.
»Wir müssen aufhören!« schreit Dr. Seter seinen Sohn mit kalkweißem Gesicht an. »Alisa hat recht! Schick die anderen Leute weg!«
Über den Sender höre ich Schreie.
Es sind die Leute von Alpha Bottom, die sterben.
Sie haben die Tür eingetreten und ihre Privatsphäre verletzt. Ich höre Schüsse, das Reißen von Fleisch, Blut, das umherspritzt, und brechende Knochen. Und über alldem ertönt laut Kalikas Gelächter. Sie ist unaufhaltsam, und sie weiß es.
Erst jetzt begreife ich, daß alles eine Falle gewesen ist – von Anfang an.
Seymour hatte recht. Kalika hat mich genug hören lassen, um daraus zu schließen, wo sie sich aufhält. Sie wußte, daß ich versuchen würde, Hilfe zu finden, und es war ihr ganz recht, daß ich ausgerechnet an die Suzama-Leute geriet, die sie offensichtlich nicht leiden mag. Ich höre eine Frau um Gnade flehen und dann ein Geräusch, das klingt, als würde sie an der Wand zerschmettert. James hält den Sender in der Hand und zittert am ganzen Körper.
»Alpha Top!« ruft er. »Helft den anderen!«
Die vier auf dem Dach sehen einander an und schütteln die Köpfe. Es wäre besser, wenn sie vom Dach verschwinden würden, aber offensichtlich wähnen sie sich dort in Sicherheit, während unten verzweifelte Todesschreie ertönen.
Als Schreie und Schüsse schließlich vorüber sind, greife ich nach James’«
Sender.
»Alpha Top«, sage ich ruhig, »sie weiß, daß ihr dort oben seid. Versucht, auf demselben Wege hinunterzukommen, wie ihr hochgekommen seid. Wartet nicht, bis sie euch holt. Bitte, hört auf mich. Klettert bis ins neunzehnte Stockwerk hinab und nehmt dort den Fahrstuhl. Noch ist Zeit dazu.«
Aber sie hören nicht auf mich. Eine kostbare Minute verrinnt, während sie miteinander diskutieren. Plötzlich erscheint Kalika, deren weißes Gewand mittlerweile rot vor Blut ist. Die vier Leute von Alpha Top sehen sie, doch ihre Angst ist so groß, daß sie nicht einmal mehr nach den Waffen greifen. Während Kalika auf das Dach klettert, ziehen sie sich in die hinterste Ecke zurück. Auch die Scharfschützen, die noch immer vor uns hocken, starren entsetzt und gebannt auf das, was sich ihnen bietet. James schlägt einem von ihnen auf den Kopf.
»Erschießt sie!« schreit er. »Sie bietet ein leichtes Ziel.«
Aber meine Tochter macht es niemandem leicht. Als eine Kugel zu ihren Füßen einschlägt, ergreift sie einen der Männer und hält ihn als menschliches Schutzschild vor sich. Die drei anderen sind erstarrt vor Angst. Jetzt blickt Kalika in unsere Richtung. Die Scharfschützen stellen das Feuer ein. James tobt vor Wut.
»Nicht aufhören!« schreit er. »Tötet sie doch endlich!«
»Aber sie hält Charles vor sich«, protestiert einer der beiden.
»O Gott, das alles kann doch
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