Das Orakel des Todes
dankbar sein, dass er ihnen die Kirschen geschenkt hat, stellte sie verzückt fest. Sie war absolut begeistert von den kleinen Früchten und hatte einen speziellen Koch, dessen einzige Aufgabe es war, sich neue Zubereitungs- und Seviermöglichkeiten auszudenken.
„ In der Tat, ein sehr lobenswertes Verdienst“, gestand ich. „ Leider hatte ich das Pech, immer in Gegenden zu kämpfen, die entweder schon völlig abgegrast waren oder in kulinarischer Hinsicht nichts Interessantes zu bieten hatten. Britannien ist genau wie Gallien, nur noch kälter, unddie Germanen essen fast ausschließlich Fleisch.“ Dies waren die einzigen Orte, an denen ich im Gegensatz zu den meisten Römern schon gewesen war. Ägypten, Zypern und die übrigen Gebiete waren längst geplündert; von dort hatten wir bereits alles nach Rom geschafft, was von irgendeinem Nutzen war.
Während Julia ihren Nachschlag verspeiste, kam ein Brief für sie an. Sie öffnete ihn und las. Wie immer ließ sie sich beim Lesen Zeit. Von ihrem Onkel Julius hatte sie die nützliche Fähigkeit gelernt, leise zu lesen, eine Kunst, die ich bis heute nicht wirklich beherrsche. Ich tunkte mein warmes Brot in eine Schale Honig und wartete, wohl wissend, dass es nichts brachte, sie zur Eile zu drängen. Ihrer gebannten Aufmerksamkeit nach zu urteilen, mit der sie den Brief studierte, musste er wichtige Nachrichten enthalten. Auf etwas warten zu müssen, machte mich wahnsinnig, und genau das genoss sie.
„Und?“, fragte ich schließlich. „Von wem ist der Brief?“ „Von meiner Tante Atia.“ Atia war eine Nichte Julius Caesars. Sie war die Ehefrau des Caius Octavius gewesen, der Prokonsul der Provinz Macedonia gewesen und vor etwa acht Jahren gestorben war. Octavius war ein so genannter Homo novus gewesen, ein „neuer Mann“, was bedeutet, dass er als Erster seiner Familie in Rom ein kurulisches Amt erlangt hatte. Nach seinem Tod hatte Atia den sehr vornehmen Lucius Marcius Philippus geheiratet.
„Und was hat sie mitzuteilen?“
„Sie berichtet, dass der junge Octavius der Liebling der Öffentlichkeit ist. Du erinnerst dich sicher, dass er im vergangenen Jahr anlässlich der Bestattung seiner Großmutter die Grabrede gehalten hat. Alle waren erstaunt, dass ein Junge so zarten Alters mit einer solchen Würde und Eloquenz zu reden vermochte.“
„Ja, ich erinnere mich.“ Ich hatte wegen der familiärer Verbindung zu der Verstorbenen an der Bestattungszeremonie teilgenommen, doch zu dem Zeitpunkt kandidierte ich gerade für das Praetorenamt und war voll und ganz mit dem Buhlen um Stimmen beschäftigt gewesen, weshalb ich den Rednern kaum Beachtung geschenkt hatte.
„Atia deutet an, dass Caesar daran denkt, den jungen Oktavius vielleicht zu adoptieren.“
Ich verschluckte mich beinahe an einer Kirsche. Caesars Bereitschaft zur Adoption war an sich nichts Überraschendes. Der Tod seiner einzigen geliebten Tochter hatte ihn am Boden zerstört und auch die letzte Verbindung zwischen ihm und dem Ehemann seiner Tochter, Pompeius, gekappt. Aber den kleinen Octavius?
„Warum sollte Caesar dieses schreckliche Balg adoptieren?“ entfuhr es mir.
„Er ist von vornehmster Abstammung, zumindest was die mütterliche Seite angeht“, erwiderte Julia. „Caesar hat viel Zeit mit ihm verbracht und ist offensichtlich von der Intelligenz und dem Potenzial des Jungen beeindruckt.“
„ Dann wird er langsam verrückt. Es gibt jede Menge Kandidaten, die für eine Adoption bei weitem besser geeignet wären. Selbst der Langeweiler Brutus käme dafür in Frage.“
„Du findest ihn nur deshalb langweilig, weil er sich ernsthaft dem Studium der Philosophie widmet. Weißt du, was ich glaube? Dass du dir insgeheim wünschst, Caesar würde dich vorziehen! „
„Mich!“, platzte es aus mir heraus.
„Gib es zu! Du stehst ihm nahe, du hast seine Nichte geheiratet, du warst in Gallien sein engster Vertrauter und hast seinen Bericht über den Gallischen Krieg praktisch allein verfasst.“
„Ich war ein besserer Sekretär und habe seine Sauklaue in etwas Lesbares transkribiert. Ich habe ihn bestenfalls gut unterhalten - eine ziemlich armselige Adoptionsempfehlung. Außerdem ist er kaum zehn Jahre älter als ich.“
„Als ob das ein Hinderungsgrund wäre! Männer adoptieren Söhne, die sogar älter sind als sie selber. Erinnere dich nur an Clodius, sein Adoptivvater war ein Mann seines Alters.“
Clodius, der zum Volkstribun gewählt werden wollte, ließ sich von einer
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