Das Orakel des Todes
sein musste. Diese wichtige Angelegenheit überließ er nie seinen Gehilfen.
Jedes Jahr, bevor er sich auf den Weg machte, stattete er dem Orakel der Hekate einen Besuch ab und fragte, ob er mit einer sicheren Reise und einträglichen Geschäften rechnen könne. Wie es schien, erhielt er stets eine günstige Prophezeiung, und da er immer gute Geschäfte gemacht hatte, schenkte er dem Orakel großes Vertrauen. Doch in diesem Jahr war es ein wenig anders. Ich und ein paar andere Sklaven begleiteten ihn. Ich war zuvor schon zweimal dabei gewesen. Er war ein wichtiger Mann und ging bei solchen Anlässen nicht ohne Begleitung. Die Priester unterzogen ihn der üblichen Zeremonie, und wir Sklaven standen etwas abseits, zusammen mit den Sklaven der anderen Orakelbesucher. Während unsere Herren die Unterwelt besuchten, warteten wir in einem kleinen Wäldchen. Es war ein heißer Tag, und einige Tempelsklaven servierten uns kalte Getränke. Dies erschien mir sehr aufmerksam von ihnen. Unter den Tempelsklaven, die uns die Getränke reichten, war ein Mädchen, vielleicht ein oder zwei Jahre Alter als ich. Sie war sehr munter und redselig, erzählte mir dies und das und erkundigte sich auch nach mir und meinem Herrn und danach, welche Art Geschäft er betreibe. Ich habe ihr im Großen und Ganzen das Gleiche erzählt wie dir, nur ein wenig ausführlicher. Schließlich kam mein Herr mit nachdenklichem Blick aus dem Tunnel. Die Orakelpriester hatten ihn gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen, da der Wille der Götter unklar sei.“
„Hat nur er diese Botschaft erhalten?“, fragte ich. „Oder auch andere Bittsteller?“
Sie runzelte die Stirn. „Das weiß ich nicht. Jedenfalls sind wir nicht nach Stabiae zurückgereist, sondern haben die Nacht im Haus eines seiner Freunde verbracht, der in der Nähe der Tempel lebt. Am nächsten Morgen haben wir erneut das Orakel aufgesucht, und mein Herr ließ die übliche Zeremonie über sich ergehen. Wir Sklaven warteten wie am Tag zuvor in dem Wäldchen, nur dass es diesmal keine kalten Getränke gab. Nach einer Weile kam mein Herr heraus, und diesmal war er in Hochstimmung. Offenbar hatte ihm das Orakel einen besonders guten Ausgang seiner Reise vorhergesagt. Er sang praktisch den ganzen Nachhauseweg vor sich hin, und als wir zu Hause ankamen, schickte er sofort nach seinem Bankier.
Wie ich später von dem Verwalter erfuhr, hatte man unserem Herrn im Heiligtum der Hekate vorausgesagt, dass seine diesjährige Reise von außerordentlichem Glück gekrönt sein werde und ihn großartige Möglichkeiten erwarteten, die zu ergreifen er sich rüsten solle. Er hat daraus geschlossen, dass er besonders vorteilhafte Verträge abschließen könne, weshalb er wesentlich mehr Geld mitnahm als sonst. Dem Verwalter zufolge soll er fünfmal mehr dabeigehabt haben als all die Jahre zuvor.“
„Verstehe. Und wie ist seine Reise ausgegangen?“
„Seine erste Station war Piräus. Dort bestieg er normalerweise ein Schiff, um auf die Inseln weiterzureisen. Als wir länger als einen Monat nichts von ihm gehört hatten, stellte der hiesige Verwalter seines Geschäfts Nachforschungen an. Er schickte ein paar Freigelassene nach Piräus, damit sie dort nach meinem Herrn fragten und seine Spur verfolgten. Sie waren im Nu wieder zurück. Ihren Informationen zufolge hatte mein Herr nur eine Nacht in dem Gasthaus verbracht, in dem er immer Unterkunft nahm. Dann sei er zum Hafen gegangen, wo er ein Schiff nach Delos habe besteigen wollen. Nach Auskunft des Hafenmeisters ist er an Bord eines kleinen Schiffes gegangen, das angeblich gerade erst aus Italia eingetroffen war. Das Schiff habe sofort abgelegt, als ob es einzig und allein auf meinen Herrn gewartet habe. Jedenfalls habe es nach seiner Ankunft weder irgendwelche Ladung gelöscht noch neue aufgenommen. Seitdem hat niemand mehr etwas von meinem ehemaligen Herrn gehört. Nach Ablauf eines Jahres wurde sein Testament verlesen, und ich war eine freie Frau.“
„Und du verdächtigst die Priesterschaft des Orakels, für das, Verschwinden deines Herrn verantwortlich zu sein?“ „Praetor, sie haben ihn reingelegt! Immerhin waren sie es, die ihn dazu verleitet haben, viel mehr Geld mit auf die Reise zu nehmen als sonst. Und ich habe noch nie gehört, dass ein Orakel so eine klare und eindeutige Empfehlung ausgesprochen hat. Aber das Schlimmste ist, dass ich meinen Teil dazu beigetragen habe.“ Offenbar hatte sie ihren Herrn sehr gemocht. Wir glauben zwar alle
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