Das Orakel des Todes
Schwelle trat, ließ ich eine Hand unter meine Tunika gleiten. Eigentlich war ich noch nicht lange genug in der Stadt, um schon das Opfer eines Überfalls aus dem Hinterhalt zu werden, aber man konnte ja nie wissen. Als ich drinnen war, warf die Frau noch einmal einen Blick in die Gasse und schloss die Tür. Der Raum war schwach von ein paar Tonlaternen beleuchtet, doch nach dem grellen Sonnenlicht war ich im ersten Augenblick nahezu blind. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich registrierte, dass ich in der Wohnung eines normalen Bürgers gelandet war.
„Dein Anliegen ist hoffentlich dringend“, sagte ich. „Und es hat besser nichts mit den morgen von mir zu verhandelnden Fällen zu tun. Ich reagiere allergisch auf jeden Bestechungsversuch.“
„Aber nein!“, entgegnete sie. „Nichts dergleichen. Es geht um die Morde.“
„Wie heißt du?“ Sie zuckte sichtlich zusammen, als ich sie mit dieser ganz banalen Frage konfrontierte. Diese Verhörtechnik hatte sich schon so manches Mal als nützlich erwiesen: Wenn man jemanden daran hindert, sich auf das zu konzentrieren, was er einem mitteilen will, rutschen ihm manchmal Dinge heraus, die er eigentlich für sich behalten wollte.
„Wie ich heiße? Äh, wieso, ich heiße Floria, Praetor.“ Ich wusste sofort, dass sie mir einen falschen Namen genannt hatte. Sie hatte zu lange überlegt. Aber das war nichts Ungewöhnliches, Informanten wollen häufig anonym bleiben. Es bedeutete nicht zwangsläufig, dass ihre Informationen minderwertig waren, ich musste sie lediglich mit der gebührenden Skepsis betrachten. Aber das tat ich sowieso. Die Leute lügen lieber, als dass sie die Wahrheit sagen, selbst wenn es ihnen nichts bringt. Und Amtsträger belügen sie besonders gern.
„Also gut, Floria, du solltest wissen, dass ich ein höchst persönliches Interesse daran habe, das Treiben in diesem Tempel aufzuklären - oder besser gesagt, in den beiden Tempeln, deshalb ist mir sehr an verlässlichen Informationen gelegen. Andererseits werde ich jeden strengstens bestrafen, der versucht, mir falsche Informationen unterzuschieben. Hast du das verstanden?“
„Selbstverständlich, Praetor! „, sagte sie und wirkte noch verängstigter. „Ich würde niemals ...“ Meine erhobene Hand brachte sie zum Schweigen.
„Oh doch, du würdest sehr wohl. Du sollst nur wissen, dass es eine sehr schlechte Idee wäre, mich zu belügen. Und jetzt sag, was du mir zu sagen hast.“ Meine Augen hatten sich inzwischen an das schwache Licht gewöhnt, und ich sah, dass sie eine hübsche Frau von etwa dreißig Jahren war, mit breiten Wangenknochen und großen Augen, wie es für die Frauen im Süden Italias typisch ist.
„Ich weiß etwas über die Priester in diesem Tempel, Praetor. „
„Du meinst den Tempel des Apollo?“
„Nein, das Orakel der Hekate.“
Ich fand es seltsam, dass sie „Priester“ gesagt hatte, obwohl der Dienst vor allem von Frauen versehen wurde. Doch ich ging darüber hinweg. „Fahre fort! „
„Nun gut, Herr, vor zehn Jahren diente ich im Hause des Lucius Terentius. Er war einer der Ölimporteure dieser Stadt. Er starb kinderlos und hatte in seinem Testament verfügt, mich und die anderen Haushaltssklaven nach seinem Tod freizulassen. Er starb genau in jenem Jahr, und ich gebe den Priestern die Schuld an seinem Tod.“ Sie hielt inne; offenbar machte ihr die Schwere ihrer Anschuldigung selber Angst.
„Du glaubst, die Anhänger der Hekate haben deinen ehemaligen Herrn umgebracht?“
„Nicht direkt, nein, aber sie ... „
„Sprich einfach weiter. Erzähl mir deine Geschichte, und hab keine Angst vor Vergeltungsmaßnahmen. Wenn du es wünschst, stelle ich dich unter meinen persönlichen Schutz.“ Ich musste an die arme Hypatia denken.
„Aber nein, das möchte ich auf keinen Fall! Dieses Treffen muss unbedingt unter uns bleiben. Also, mein Herr bereitete sich auf eine Reise nach Griechenland und zu den Inseln vor, wo er seine Öllieferanten besuchen wollte. Er wollte unter anderem nach Kreta, Zypern und auf ein oder zwei weitere Inseln. Er importierte Ole von höchster Qualität, solche, die zum Baden und zur Herstellung von Parfümen verwendet werden. Jedes Jahr im Frühling unternahm er eine solche Geschäftsreise, um vor Ort mit seinen Gehilfen die Konten durchzugehen und neue Verträge auszuhandeln. Viele Händler waren daran interessiert, die besten Pressungen zu kaufen, weshalb man zur rechten Zeit mit dem Geld vor Ort
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