Das Orakel vom Berge
zumindest keine trivialen Sorgen. Die ganz privaten, unbedeutenden Sorgen um meine eigene Haut.
Aber was den Rest betrifft – nun, da fangen sie erst an.
11
Für den Reichskonsul in San Francisco, Freiherr Hugo Reiss, war die erste Amtshandlung dieses Tages unerwartet und unangenehm. Als er sein Büro betrat, fand er dort bereits einen Besucher vor, einen großen Mann in mittleren Jahren mit pockennarbiger Haut und einem finsteren Blick, der seine schwarzen buschigen Augenbrauen wie einen Strich erscheinen ließ. Der Mann stand auf, grüßte mit dem Parteigruß und murmelte: »Heil.«
Reiss sagte ebenfalls ›Heil‹, wenn er auch innerlich dabei stöhnte. »Herr Kreuz vom Meere. Das ist aber eine Überraschung. Kommen Sie doch bitte herein.« Er schloß seine Bürotür auf und fragte sich, wo sein Vizekonsul wohl sein mochte und wer den SD-Chef eingelassen hatte. Jedenfalls war er jetzt hier. Da konnte man nichts machen.
Die Hände in den Taschen seines dunklen Wollmantels, folgte Kreuz vom Meere ihm und sagte: »Hören Sie, Freiherr. Wir haben diesen Burschen von der Abwehr jetzt ausfindig gemacht. Diesen Rudolf Wegener. Er ist an dem alten Abwehrbriefkasten aufgetaucht, den wir dauernd im Auge behalten.« Kreuz vom Meere gluckste und zeigte dabei enorm große Goldzähne. »Und dann haben wir ihn in sein Hotel zurückverfolgt.«
»Schön«, sagte Reiss und stellte geistesabwesend fest, daß seine Post bereits auf seinem Schreibtisch lag. Pferdehuf war also irgendwo in der Nähe. Wahrscheinlich hatte er das Büro deshalb verschlossen gehalten, um den SD-Chef daran zu hindern, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen.
»Das ist wichtig«, sagte Kreuz vom Meere. »Ich habe Kaltenbrunner verständigt. Höchste Priorität. Sie werden wahrscheinlich in Kürze aus Berlin hören.« Er setzte sich auf die Schreibtischkante des Konsuls, holte ein mehrfach zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und faltete es etwas umständlich auseinander. »Sein Deckname ist Baynes. Er gibt sich als schwedischer Industrieller oder Geschäftsmann oder so etwas aus. Heute morgen um acht Uhr zehn erhielt er den Anruf eines japanischen Beamten wegen einer Verabredung um zehn Uhr zwanzig im Büro des Japs. Wir versuchen im Augenblick festzustellen, wo das Gespräch herkam. Das dauert höchstens noch eine halbe Stunde. Man wird mich dann hier verständigen.«
»Aha«, sagte Reiss.
»Wir können diesen Burschen festnehmen«, fuhr Kreuz vom Meere fort. »In diesem Falle schicken wir ihn natürlich mit der nächsten Lufthansa-Maschine ins Reich zurück. Aber die Japs oder Sacramento könnten protestieren und versuchen, uns zu hindern. Sie werden bei Ihnen protestieren, falls sie das tun. Es kann sogar sein, daß man ungeheuren Druck auf Sie ausüben wird.«
»Und Sie können nicht verhindern, daß die Japs es erfahren?«
»Zu spät. Er ist schon unterwegs zu seiner Verabredung. Kann sein, daß wir ihn an Ort und Stelle schnappen müssen. Mit Gewalt. Und dann einfach abhauen.«
»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Reiss. »Angenommen, er hat mit einem japanischen Beamten von hohem Rang eine Verabredung? Es könnte im Augenblick sogar ein persönlicher Vertreter des Kaisers in San Francisco sein. Ich habe neulich das Gerücht gehört…«
Kreuz vom Meere unterbrach ihn. »Das ist nicht wichtig. Er ist ein deutscher Staatsbürger. Damit untersteht er dem Reichsgesetz.«
Und wir wissen genau, was das Reichsgesetz sagt, dachte Reiss.
»Ich habe eine Kommandogruppe bereit«, fuhr Kreuz vom Meere fort. »Fünf erstklassige Leute.« Er gluckste. »Sie sehen wie Violinspieler aus. Hübsche asketische Gesichter. Seelenvoll. Vielleicht wie Studenten der Religionsgeschichte. Die kommen schon hinein. Die Japs werden denken, sie seien ein Streichquartett…«
»Quintett«, sagte Reiss.
»Ja. Sie gehen zur Tür – sie sind genau richtig angezogen.«
Er sah den Konsul an. »Ziemlich genau wie Sie.«
Danke, dachte Reiss.
»Am hellichten Tage. Bauen sich um diesen Wegener herum auf. Tun so, als konferierten sie miteinander. Wichtige Nachricht.« Kreuz vom Meere dröhnte weiter, während der Konsul seine Post zu öffnen begann. »Keine Gewalttätigkeiten. Nur ›Herr Wegener, kommen Sie bitte mit. Sie verstehen.‹ Und ein kleiner Bolzen in die Wirbelsäule. Obere Ganglien paralysiert.«
Reiss nickte.
»Hören Sie überhaupt zu?«
»Ganz bestimmt.«
»Dann wieder hinaus. Zum Wagen. Zu meinem Büro. Die Japs machen einen
Weitere Kostenlose Bücher