Das Orakel vom Berge
Heidenlärm. Aber höflich bis zum letzten.« Kreuz vom Meere stemmte sich vom Schreibtisch hoch, um einen Japaner nachzumachen. »Sehr vulgär, uns zu täuschen, Herr Kreuz vom Meere. Aber dennoch, leben Sie wohl, Herr Wegener.«
»Baynes«, dachte Reiss. »Benutzt er nicht seinen Decknamen?«
Das Telefon auf Reiss’ Schreibtisch klingelte. Kreuz vom Meere setzte sich wieder. »Das könnte für mich sein.« Er griff nach dem Hörer, aber Reiss kam ihm zuvor. »Der Reichskanzler möchte Sie sprechen«, sagte die Stimme seiner Sekretärin aufgeregt.
»Herr Konsul, tut mir leid, daß ich Sie stören muß.« Das Blut in Reiss’ Adern stockte beinahe. Ein Bariton, kultiviert, eine gepflegte, angenehme, Reiss durch und durch vertraute Stimme. »Hier spricht Dr. Goebbels.«
»Ja, Kanzler.« Und Kreuz vom Meere lächelte.
»General Heydrich hat mich gerade gebeten, Sie anzurufen. In San Francisco ist ein Agent der Abwehr. Er heißt Rudolf Wegener. Sie müssen, was ihn betrifft, voll und ganz mit der Polizei zusammenarbeiten. Es ist jetzt nicht die Zeit, Ihnen Einzelheiten zu sagen. Jedenfalls erwarte ich Ihre Unterstützung. Ich danke Ihnen sehr.«
»Ich verstehe, Herr Kanzler«, sagte Reiss.
»Guten Tag, Konsul.« Der Reichskanzler legte auf.
Kreuz vom Meere musterte ihn scharf, als Reiss ebenfalls auflegte.
»Habe ich recht gehabt?«
Reiss zuckte die Achseln. »Kein Einwand.«
»Schreiben Sie mir eine Bewilligung, diesen Wegener gewaltsam nach Deutschland zurückzuführen.«
Reiss nahm seine Feder, schrieb die Bestätigung aus, unterzeichnete sie und reichte sie dem SD-Chef.
»Danke«, nickte Kreuz vom Meere. »Wenn die Japsbehörden Sie jetzt anrufen und sich beklagen…«
»Wenn sie das überhaupt tun.«
Kreuz vom Meere musterte ihn. »Das werden die bestimmt. Die sind fünfzehn Minuten, nachdem wir diesen Wegener geschnappt haben, hier.« Seine Stimme klang jetzt wieder ganz normal.
»Aber nicht mit einem Geigenquintett«, sagte Reiss.
Kreuz vom Meere gab keine Antwort. »Wir werden ihn irgendwann heute morgen haben. Seien Sie also bereit. Sie können den Japsen ja sagen, er sei ein Homosexueller oder ein Fälscher oder so etwas. Wegen eines Kapitalverbrechens zu Hause gesucht. Sagen Sie ihnen nicht, daß er aus politischen Gründen gesucht wird. Sie wissen genau, daß die Japs neunzig Prozent der nationalsozialistischen Gesetze nicht anerkennen.«
»Ich weiß das«, sagte Reiss. »Ich weiß auch, was ich tun muß.« Er war jetzt gereizt. Einfach über meinen Kopf hinweg, dachte er. Wie gewöhnlich. Mit dem Kanzleramt Verbindung aufgenommen. Diese Dreckskerle.
Seine Hände zitterten. Anruf von Dr. Goebbels – war es das? Von der Macht beeindruckt? Oder ist das Ärger… diese verdammte Polizei, dachte er. Und die werden immer stärker. Jetzt arbeitet bereits Goebbels für sie; letzten Endes sind sie es, die im Reich etwas zu sagen haben. Aber was kann ich tun? Was kann überhaupt jemand tun? Aber vielleicht kann ich doch etwas? Irgendein Prügel, den er dem SD zwischen die Beine werfen konnte – natürlich, ohne daß man ihn verdächtigte. Zum Beispiel wenn die Japaner hierherkommen, um sich zu beklagen… dann könnte ich ja einen Hinweis auf den Lufthansaflug fallen lassen, mit dem dieser Bursche entführt werden soll… ich mag Leute nicht, die über meinen Kopf hinweg handeln, sagte sich Freiherr Reiss. Ich fühle mich da nicht wohl. Da werde ich nervös, und wenn ich nervös bin, kann ich nicht schlafen, und wenn ich nicht schlafen kann, kann ich meine Arbeit nicht tun. Ich bin es also Deutschland schuldig, dieses Problem irgendwie zu korrigieren.
Gegen elf Uhr morgens schloß Robert Childan seinen Laden ab und begab sich zu Fuß in Mr. Paul Kasoura’s Büro.
Zum Glück hatte Paul Zeit. Er begrüßte Childan höflich und bot ihm Tee an.
»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte Childan, nachdem sie beide die Tassen zum Mund geführt hatten. Pauls Büro war zwar klein, jedoch modern und elegant eingerichtet. An der Wand ein einziger Druck: Mokkeis Tiger, ein Meisterstück vom Ende des dreizehnten Jahrhunderts.
»Es freut mich immer, Sie zu sehen, Robert«, sagte Paul mit einer Stimme, die – wie Robert Childan dachte – vielleicht etwas von oben herab klang.
Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Childan blickte vorsichtig über seine Teetasse hinweg. Der Mann wirkte zweifellos freundlich. Und doch – Childan spürte, daß sich etwas geändert hatte.
»Ihre Frau war
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