Das Orakel von Antara
unheimliche Wesen wieder aus dem Raum.
Als das dunkle Grau der Nacht vor den Scheiben aus klarem Eis lichter wurde, erschien der nächtliche Besucher wieder. Er näherte sich dem Bett, und die smal lösten sich drei Arme wie dünne Nebelschwaden aus den undeutlichen Konturen der Gestalt. Sie packten die dichten Pelze und zogen sie beiseite. Mit einem Ruck fuhr Yorn in die Höhe. Entsetzt weiteten sich seine Augen, und er stieß einen erstickten Schrei aus. Im Nu saßen auch Reven und Kandon aufrecht, in den Händen genau wie Yorn die blankgezogenen Schwerter, welche die ganze Nacht neben ihnen gelegen hatten. Ein heiseres Geräusch wie ein Lachen kam von dem Wesen, das am Fußende des Lagers stand. Dann sagte es mit undeutlicher Stimme:
„Wenn ich euch ans Leben wollte, hätte ich das in dieser Nacht leicht besorgen können. Ihr wäret im Schlaf erstickt, ohne aufzuwachen. Aber seid unbesorgt! Ihr steht unter dem Schutz der Königin, die Götter mögen wissen, warum. Denn ich traue euch nicht, und meine Augen werden euch auf jedem Schritt eures Weges hier in unserem Land folgen. Ich bin M'Nor, der Ratgeber und Behüter der Königin. Und jetzt steht auf. Das Mahl, das ihr gestern verschlafen habt, steht noch auf dem Tisch. Eilt euch, denn wir werden in Kürze aufbrechen.“
Für einen Augenblick schien sich die Gestalt zu verdichten. Deutlich erkannten die erschreckten Freunde einen gewaltigen Körper mit sechs langen, dünnen Armen, der auf säulenartigen Beinen stand. Die drei funkelnden Augen blickten voll drohendem Spott aus dem riesigen, runden Kopf auf die drei Männer nieder. Das Wesen schien zu wachsen, und die Gestalt wurde über sieben Fuß hoch. „Hütet euch vor Verrat!“ Die Stimme klang auf einmal gefährlich klar. Dann verschwammen die Umrisse des Wesens wieder, und wie ein flüchtiger Nebel schien es durch den Vorhang zu fließen.
„Bei allen Göttern! Was war das denn für ein Albtraum?“ stieß Kandon hervor.
„Vaneas Beschützer!“ sagte Reven trocken, der sich am schnellsten von seinem Schrecken erholt zu haben schien. „Wenn das ganze Volk so ist wie dieser M'Nor, muss es eine Freude sein, hier zu leben.“
„Bei Saadh! Niemals sah ich ein so schreckliches Wesen wie ihn!“ stöhnte Yorn. „Ich war recht zuversichtlich, Vanea irgendwie täuschen zu können. Doch dieser M'Nor hat diese Zuversicht schmelzen lassen wie eine Schneeflocke im Feuer. Wie sollen wir dieses Ungeheuer hinters Licht führen?“
„Wir haben uns nun einmal entschlossen, das Spiel zu spielen“, sagte Kandon. „Wie Reven schon sagte, nur im Vertrauen auf Saadh und seine Hilfe liegt unsere einzige Chance.“
„Ja, du hast recht“, seufzte Yorn. „Wir müssen es versuchen. Aber lieber kämpfe ich gegen ein ganzes Heer Moradonen als gegen ein Wesen von dieser Art. Das Gefühl der Furcht läßt mich nicht los, seit wir den Fuß in dieses verfluchte Land gesetzt haben.“
„Auch ich spüre diese Angst“, sagte Reven. „Doch ich kann nicht glauben, dass uns Saadh zu dieser Aufgabe ausgesandt hätte, wenn es nicht eine Möglichkeit gäbe, sie zu lösen. Bedenke, es ist sein Wille, dass unser Volk von der Knechtschaft der Moradonen befreit wird.“
„Gut denn, es geschehe nach seinem Willen!“ sagte Yorn entschlossen und sprang aus dem Bett. Kurze Zeit später saßen die drei am Tisch und machten sich über die Speisen her, die M'Nor ihnen gebracht hatte. Es war Fleisch, gekocht und ohne Salz bereitet, auch gesottene Vogeleier gab es, doch keiner der drei hätte sagen können, von welchen Tieren Fleisch oder Eier stammten. Auch Wynn, der sich langsam zu beruhigen schien, bekam seinen Teil. Kandon äugte immer wieder misstrauisch auf die Bissen in seiner Hand.
„Wer weiß, was wir hier essen?“ brummte er. „Ich hoffe nur, das ist nicht das Fleisch von wagemutigen Abenteurern wie uns, die in M'Nors zahlreiche Hände gefallen sind.“
Yorn lachte. „Ich glaube nicht, dass Vanea uns mit so etwas füttern würde. Ich glaube eher, das ist Fleisch von solchen Bären, deren Felle uns diese Nacht so gut gewärmt haben.“
„Genau das ist es!“ klang da eine Stimme von der Tür her. Vanea trat ein, und im helleren Schein des Tages sah sie weniger furchterregend aus als am Abend zuvor. Ihre Gestalt war weniger nebelhaft, und verwundert sahen die Männer, wie schön die mädchenhafte Königin des Nebelreichs war. Langes, silberweißes Haar fiel ihr, von einem
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