Das Orakel von Antara
edelsteinbesetzten Reif gehalten, bis auf den Rücken nieder. Ihr weißes Gewand schien aus Nebel gewoben zu sein, so zart und fließend bedeckte es die zarte, schlanke Gestalt. Winzige Diamanten darin ließen es wie Schneekristalle funkeln. Yorn seufzte. Warum konnte dieses wunderschöne Mädchen nicht ein Wesen sein wie er? Er stellte sich vor, wie es sein musste, diesen schön geschwungenen, blassrosa Mund zu küssen, doch sogleich schauderte er davor zurück, wenn er an die kalte und zugleich brennende Berührung ihrer Hand dachte. Nein, so schön Vanea auch war, in ihr lag etwas Fremdes, so Unerklärliches, dass Yorn unwillkürlich zurückzuckte, als sie nun auf ihn zu trat. Vanea schien seine Reaktion zu bemerken, denn sie verhielt ihren Schritt und lächelte ihm zu.
„Ich sehe immer noch Furcht und Unbehagen in euren Augen“, sagte sie. „Die Furcht ist unbegründet, wenn ihr euch an das haltet, was ich euch sagte. Das Unbehagen - hoffe ich - wird vergehen, wenn ihr unser Volk erst kennen und verstehen gelernt habt. Wir erscheinen euch seltsam und unheimlich. Meint ihr nicht, dass wir euch genauso empfinden könnten? Ich hoffe jedoch, dass ihr und ich ein wenig dazu beitragen können, dass mit dem Verstehen auch die Freundschaft zwischen unseren beiden so verschiedenen Völkern entstehen könnte.“
Wieder trieb die Scham Yorn das Blut in die Wangen. Er glaubte zu fühlen, dass Vanea ihre Worte ehrlich meinte. Und doch sah er keine andere Möglichkeit, an sein Ziel zu kommen, als das Vertrauen zu missbrauchen, das sie ihm und seinen Gefährten entgegenbrachte.
„Wir danken dir für deine Gastfreundschaft, Königin Vanea“, antwortete er und verbeugte sich vor ihr. Auch Reven und Kandon hatten sich bei ihrem Eintreten erhoben und sich vor ihr verneigt.
„Ich hoffe, das Mahl war reichlich“, sagte Vanea, „wenn es auch vielleicht nicht ganz nach eurem Geschmack war. Aber da wir ganz andere Speise zu uns nehmen als ihr, war es nicht gerade leicht, in so kurzer Zeit etwas Geeignetes für euch zu finden. Doch wenn ihr nun bereit seid, wollen wir aufbrechen. Die Schlitten warten bereits. Wir werden unser Ziel erreichen, wenn es wieder dunkel wird, denn die Tage sind schon kurz. Am nächsten Morgen werde ich euch dann das Heiligtum zeigen.“
Vanea führte sie vor das Schloss, wo vier leichte Schlitten standen. Je sieben schneeweiße Wölfe waren davor gespannt, die bei Wynns Anblick drohend zu knurren und zu bellen begannen. Doch ein scharfer Ruf Vaneas ließ sie sofort verstummen.
„Ich nehme an, ihr wißt ein solches Gefährt zu lenken“, meinte Vanea. „Ich hörte, dass auch bei euch solche Gespanne benutzt werden.“
„Gewiss, Königin“, antwortete Kandon mit einem zweifelnden Blick auf die Gespanne, „nur nehmen wir nicht gerade Wölfe dazu, sondern Hunde wie Wynn.“
„Wo ist der Unterschied?“ lachte Vanea. „Für uns sind diese Wölfe dasselbe wie für euch die Hunde. Färbt euren Wynn weiß und schaut dann, ob er viel anders aussieht als diese hier.“
„Wo sie recht hat, hat sie recht!“ schmunzelte Reven, dem der Gedanke an eine solche Schlittenpartie Spaß machte. „Hauptsache ist doch, dass die Viecher gehorchen.“
„Das werden sie“, antwortete Vanea, „denn sie sind gut abgerichtet. Aber haltet lieber euren Hund von ihnen fern, damit er sie nicht reizt.“
„Wynn wird hinter meinem Schlitten laufen“, sagte Kandon, „ und ich werde dafür sorgen, dass er den Wölfen nicht zu nahe kommt.“
„Aber sag', edle Königin, wirst du allein uns begleiten?“ fragte Yorn erstaunt.
„Ja“, lächelte Vanea, „zumindest was die Schlitten betrifft. M'Nor wird ebenfalls dabei sein, aber er braucht kein solches Gefährt. Andere meiner Diener sind uns schon vorausgeeilt, damit wir an Ort und Stelle alles zu eurer Bequemlichkeit bereit haben. Ich weiß, dass euch der Anblick der meisten meiner Untertanen erschreckt. Daher wollte ich euch nicht damit belasten.“
„Das ist sehr rücksichtsvoll von dir, Herrin“, meine Yorn, „doch ich denke, wir werden uns schon an sie gewöhnen, wenn wir sie erst öfter gesehen haben. Doch ich muss sagen, dass uns M'Nor einen nicht gelinden Schrecken eingejagt hat, als er heute Morgen vor uns stand, zumal er uns nicht gerade freundlich gesinnt ist.“
„Nehmt das nicht so tragisch“, sagte Vanea. „M'Nor ist seit meiner frühesten Jugend mein Beschützer und er wittert
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