Das Orakel von Antara
geschehen. Und wer weiß, warum jener Fremde meine Großmutter verließ? Dies war nicht seine Heimat. Unser Land mag ihm düster und trostlos erschienen sein trotz der Liebe, die meine Ahne für ihn empfand. Die Bewohner hier mögen ihn erschreckt haben wie euch, und vielleicht sehnte er sich danach, wieder unter seinesgleichen zu sein. Und eines Tages wurde diese Sehnsucht vielleicht so groß, dass er es hier nicht mehr aushielt.“ Vaneas Stimme war leise geworden. Ihre Augen suchten Yorns Blick, als sie nun sagte: „Vielleicht empfinden die Menschenwesen die Liebe auch nicht so wie wir, dass sie bereit sind, alles für sie aufzugeben. Was weiß ich, was weiß M'Nor von den Menschen und ihren Empfindungen? Doch auch in mir fließt ein Teil desselben Bluts, das durch eure Adern rinnt. Mag sein, dass ich daher mehr Verständnis für den Fremden habe, als M'Nor je empfinden kann. Darum habe ich ihm befohlen, euch kein Haar zu krümmen, denn ich finde, es ist genug der Rache und des Misstrauens. Nun ist es an euch zu beweisen, dass ihr meines Vertrauens würdig seid.“
Die Gefährten senkten die Köpfe. Keiner wagte es, Vanea ins Gesicht zu schauen. Doch dann richtete Yorn sich auf.
„Nein, ich kann nicht länger schweigen“, sagte er mit belegter Stimme, „auch wenn es uns das Leben kostet! Hör mich an, Königin! Du gewährst uns dein Vertrauen und deine Gastfreundschaft, und wir sitzen hier an deiner Seite und tragen Verrat im Herzen, einen Verrat, der nur den alten Groll und die schlechte Meinung über unsere Rasse wieder aufleben lassen würde. Du sollst wissen, dass wir nur begehren, den Wasserfall zu sehen, um vielleicht doch an unser Ziel zu kommen.“ Voller Schrecken hatte Reven ihm ins Wort fallen wollen, doch Yorns bestimmte Handbewegung brachte ihn zum Schweigen. „Nein, Reven, ich will nicht durch einen ehrlosen Verrat an mein Ziel gelangen. Soll sich die Hoffnung unseres Volkes auf solchem Tun aufbauen? Saadh selbst würde nicht wollen, dass wir auf solch schändliche Weise seinen Willen erfüllen. Verzeih uns, edle Vanea, dass wir bereit waren, euer Heiligtum zu entweihen. Doch vielleicht verstehst du unser Handeln, wenn du unsere Geschichte gehört hast. Ich bitte dich, richte erst, wenn du den Grund für unseren verräterischen Plan erfahren hast.“
Vanea schien noch bleicher geworden zu sein, als sie Yorns Geständnis hörte. Doch dann nickte sie. „Ich habe gewusst, dass ihr das plantet“, sagte sie. „Aber ich habe gehofft, dass ihr es nicht tun würdet. So hatte ich doch recht, als ich M'Nor verbot, euch zu töten, denn ihr seid nicht so schlecht, wie er von euch dachte. Ich wollte erst sehen, ob ihr wirklich fähig wäret, mein Vertrauen so schmählich zu missbrauchen. Ich wollte erst den Beweis, dass alle Menschen so schlecht sind wie jener Fremde, der einst meine Großmutter Keria ins Unglück stürzte. Ich konnte nicht glauben, Yorn von Niveda, das deine Augen so lügen könnten. Und ich habe mich nicht getäuscht! Das macht mich froh. Erzähl mir eure Geschichte. Vielleicht findet sich ein Weg, wie ich euch helfen kann.“
„Du wusstest, was wir planten?“ fragte Yorn verwundert. „Und trotzdem warst du bereit, uns zu eurem Heiligtum zu führen? Du bist sehr mutig! Was wäre gewesen, wenn wir dich als Geisel genommen hätten, um zu unserem Ziel zu kommen?“
Vanea lächelte leicht. „Es wäre euch schwer gefallen, mich zu halten“, sagte sie. „Könnt ihr den Nebel binden? Und ihr seht nicht einmal M'Nor, der dort schon die ganze Zeit steht und uns beobachtet. Nein, es war keine Gefahr dabei, euch zum Heiligtum zu führen. Seit ihr in unserem Land seid, war euch die Gefahr stets näher als mir in eurer Gegenwart. Doch nun erzählt mir eure Geschichte, aber sprecht leise. M'Nor sieht ausgezeichnet, aber er hört nicht gut. Er muss nicht alles wissen, was wir besprechen.“
So berichtete Yorn der Königin von der Bedrohung seines Volkes durch die Moradonen und von der Weissagung des Gottes, wie er sein Volk befreien konnte. Vanea hörte ihm aufmerksam zu, und ihre Augen ruhten mit träumerischem Blick auf ihm. Als er geendet hatte, schwieg sie eine Weile. Dann hob sie den Blick wieder zu seinen Augen und sagte:
„Sei unbesorgt, Yorn von Niveda, ich werde einen Weg finden, euch zu helfen, ohne unser Heiligtum zu entweihen. Ich bin die oberste Priesterin Namindas, und ich werde die Göttin bitten, euch ihr Wohlwollen zu zeigen. Sie ist eine
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