Das Orakel von Antara
Ansinnen zu stellen? Hier herrschen unsere eigenen Götter, und Naminda, deren Heiligtum der Wasserfall ist, wird ihr Eigentum vor den Übergriffen eures Gottes zu schützen wissen!“ Vanea streckte ihre durchsichtige Hand gegen die Männer aus. „Kehrt um, auf der Stelle! Ich befehle es euch! Kehrt um, denn noch bin ich bereit, euch ungestraft ziehen zu lassen. Ich halte euch zugute, dass nicht Mutwillen oder Gier euch in mein Reich eindringen ließen, sondern dass ihr dem Auftrag eures Gottes folgt. Kehrt um und sagt eurem Gott, er möge nicht versuchen, seine Kräfte mit denen unserer Herrin Naminda zu messen. Groß ist ihre Macht, und ich bin nicht nur die Königin des Nebelreiches, sondern auch ihre oberste Priesterin.“
Der kalte, gläserne Ausdruck in Vaneas Augen wurde milder, als ihr Blick nun auf Yorn ruhte. „Geh' zurück in deine Heimat, Niveder!“ sagte sie leise. „Es täte mir leid, euch verderben zu müssen, denn ihr scheint aufrechte Männer zu sein, und es wäre schade um euch. Wäret ihr nicht mit solchem Ziel gekommen, wer weiß - vielleicht wäret ihr uns willkommen gewesen.“
Yorn glaubte, einen Anflug von Bedauern in dem zarten Gesicht wahrzunehmen, und so wagte er zu fragen: „Verzeih mir, edle Königin, wenn ich eine große Gnade von dir erflehe. Sieh, viele Wochen sind wir durch die Einöde gezogen, um den Wasserfall zu finden, und nun sollen wir umkehren, ohne ihn auch nur gesehen zu haben. Willst du uns nicht wenigstens gestatten, ihn von fern zu betrachten? Wir wollen nicht den heiligen Kreis betreten und den hehren Ort entweihen, doch vergönne uns einen Blick auf diese von dir gepriesene Schönheit, damit unser Weg nicht ganz vergebens war. Vielleicht hat unser Gott dann ein Einsehen und erlässt uns die Strafe, da wir solche Schönheit unbeschadet ließen. Saadh kann nicht wollen, dass wir das Heiligtum eines anderen Gottes entweihen.“
Vanea sah ihn eine Weile prüfend an, und Yorn meinte, ein eisiger Strom flöße von ihren Augen bis tief in seine Seele. Dann legte das Mädchen seine Fingerspitzen auf Yorns Hand, und die Berührung war, als streiche feuchte Seide sanft über seine Haut. Vaneas Finger, flüchtig wie ein Nebelhauch, waren kühl, fast kalt, und doch glaubte Yorn, unter dieser Kälte für einen Augenblick die Glut der heißen Quellen dieses seltsamen Landes zu spüren. Nur einen Herzschlag lang ruhte Vaneas Hand auf der Yorns, dann zog das Mädchen sie fort.
„Ich weiß nicht, was mich dazu treibt, die Bitte eines Fremdlings zu erfüllen“, sagte sie dann, „zumal ich nicht sicher bin, ob nicht Verrat und Hinterlist deine Worte leiten. Doch gut, es sei! Ihr sollt den Wasserfall sehen. Aber ich warne euch: Wagt ihr es, das Heiligtum zu betreten oder gar die Kristallflut zu berühren, seid ihr des Todes! Folgt mir nun! Für heute sollt ihr meine Gäste sein. Morgen werden wir dann zum Sitz der Göttin aufbrechen.“
Noch einmal blickte sie Yorn tief in die Augen, und wieder durchfuhr ihn ein eisiger Schauer. Doch in seinem Herzen brannte schon jetzt die Scham über den Betrug, den er plante - planen musste!
Vanea hatte sich umgewandt, und die Männer folgten ihrem unhörbaren Schritt. Es schien, als schwebe sie über dem Boden, und die Umrisse ihrer G estalt verwoben sich mit dem Nebel, als sei sie ein Teil von ihm. Während sie hinter Vanea herhasteten, verloren die Männer in der unwirklich scheinenden Umgebung jedes Zeitgefühl. Es war ihnen, als schritten sie durch ein Traumland.
Auf einmal jedoch erhoben sich aus dem Nebel die schemenhaften Umrisse von Säulen und Mauern. Dann wurde der Dunst lichter, und die Männer sta nden vor einem gewaltigen Bauwerk. Es schien aus weißem Marmor gehauen zu sein, doch als sie nun näher traten, sahen sie, dass die Säulen aus glitzerndem Eis waren. Wie von Geisterhand entflammten vor dem imposanten Portal Fackeln, deren blaue Flammen das Eis wie Diamant aufblitzen ließen und die Gesichter der Männer mit gespenstischem Leuchten übergossen. Vanea schritt die Stufen zum Portal hoch und winkte den Männern, ihr zu folgen.
Bald standen sie in einer weiten Säulenhalle, die ebenfalls von dem seltsamen blauen F ackelschein erhellt war. Die Königin wandte sich um, und ihre Hand beschrieb einen Kreis.
„Dies ist mein Haus“, sagte sie. „Seid willkommen! Verzeiht, wenn ich meinen Gästen nicht die gewohnte Umgebung bieten kann, doch ich weiß zu wenig von euren Sitten und Gebräuchen, um
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