Das Orakel von Antara
strenge Herrin, doch auch eine gütige. Sie wird mein Flehen erhören, wenn sie erfährt, dass das Schicksal eines ganzen Volkes von ihrer Gnade abhängt. Doch ich muss an meine Hilfe eine Bedingung knüpfen. Wenn du dein Ziel erreicht hast, Yorn, und dein Volk aus der Gewalt deiner Feinde befreit hast, musst du hierher zurückkehren. Ein Jahr sollst du dann bei uns leben und mir und den Meinen dein Volk näher bringen. Willst du diesen Preis für meine Hilfe zahlen?“
Yorn schauderte. Ein ganzes Jahr sollte er unter diesen schrecklichen Wesen leben, in der ewigen Dämmerung und Kälte des Nebels? Was wollte Vanea von ihm? Sollte er die Nachfolge des Fremden antreten, der Vaneas Ahne im Stich gelassen hatte? Und wenn er dieses Opfer brächte, würde sie ihn je wieder gehen lassen? Yorn war nun überzeugt, dass Reven mit seiner Mutmaßung Recht hatte, dass dieses Mädchen sich in ihn verliebt hatte. Aber wenn das so war, würde sie dann nicht zu verhindern suchen, dass er sie wieder verließ? Und würde der schreckliche M'Nor zulassen, dass seinem Augapfel Vanea Leid zugefügt würde wie seiner geliebten Keria? Und vor allem - was würde geschehen, wenn er - einmal hierher zurückgekehrt - Vaneas Wünschen nicht würde entsprechen können? Würde er sich nicht ihren Zorn zuziehen? M'Nor würde nur auf die Gelegenheit warten, sich des verhassten Fremden entledigen zu können. Gut, Vanea war sehr schön, doch auch das konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ihm kalt über den Rücken lief, wenn er daran dachte, sie vielleicht in seinen Armen halten zu müssen. Vanea sah das Zögern Yorns, und Trauer umflorte ihren Blick.
„Lass’ nur!“ sagte sie leise. „Ich sehe, dass dir dieser Preis zu hoch ist. Ich will nicht, dass du etwas gibst, was dir nicht von Herzen kommt. Ich werde dir auch so helfen. Aber hüte dich davor, dass M'Nor je erfährt, dass du mich abgewiesen hast. Ich weiß schon jetzt, dass es mir schwer genug fallen wird, ihn zu täuschen. Er wird spüren, dass ich euch nur schweren Herzens wieder ziehen lassen werde, und es wird ihn wütend machen. Schon von je her verflucht er das fremde Blut in meinen Adern, das mich manchmal meinem eigenen Volk entfremdet. Nicht, weil ich die Königin bin, wurde ich die Priesterin Namindas, sondern weil ich die Sonne liebe und mir mein Amt oft Gelegenheit gibt, dort am See und am Wasserfall zu verweilen, wo der Himmel blau ist und die Sonne mit ihren Strahlen das Land erhellt. Manchmal bin auch ich hier eine Fremde, und in mir ist ein unbekanntes Sehnen, das ich nicht erklären kann. Ich weiß nicht, wonach ich mich sehne, doch es ist etwas, das ich hier im Nebelreich nicht finden kann. Ihr habt ein Stück davon mitgebracht, und das Blau von Yorns Augen erinnert mich an den Himmel über dem Wasserfall. Etwas in diesen Augen ruft eine Erinnerung in mir wach, die nicht meine eigene ist. Wie gern würde ich euch eine Weile hierbehalten, um etwas von dieser Welt zu erfahren, die nicht grau und düster, sondern hell und voller Farben ist. Ich kann verstehen, Yorn, dass du diese Welt nicht gegen unsere eintauschen willst, auch nicht für eine kleine Weile. Darum bin ich dir nicht böse, dass du nicht wiederkommen magst. Und ich verstehe auch, dass es etwas gibt, was dich von mir fernhält. Ich selbst verspüre diesen Schauder vor dir, genauso, wie du ihn wohl vor mir empfindest. Doch da ist etwas in mir, das diesen Schauder überdeckt. So mag es wohl Keria empfunden haben, als sie den Fremden sah. Vielleicht ist es gut, dass du nur kurze Zeit bei uns verweilen wirst und dann in dein Land zurückkehrst. Ach, wie gern würde ich dein Land einmal sehen!“
Yorns Herz füllte sich mit Mitleid. Er spürte die Zerrissenheit Vaneas, die das harte Schicksal tragen musste, keiner der beiden Rassen ganz anzugehören. Wo sie auch sein würde, immer bliebe in ihr die Sehnsucht nach dem anderen Land. Yorn glaubte, dass so wie sie im Nebelreich nie ganz glücklich sein konnte, sie sich doch dorthin sehnen würde, brächte man sie zu den Menschen.
„Verzeih mir, Vanea“, sagte er daher, „dass ich deinem Wunsch nicht sofort zustimmte. Aber jetzt drängt die Zeit, so dass ich nicht länger bei euch bleiben kann. Und noch ist mein Schicksal zu ungewiss, als dass ich dir versprechen könnte, eines Tages wiederzukehren. Wenn es uns auch gelingt, mit deiner Hilfe den ersten Teil der gestellten Aufgabe zu lösen, so liegen doch noch so viele Gefahren auf
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