Das Orakel von Antara
unserem weiteren Weg, dass es vermessen wäre zu sagen, dass wir sie heil überstehen werden. Und selbst wenn es uns vergönnt ist, mein Volk mit der Hilfe der Götter zu befreien, ist meine Arbeit noch nicht getan. Jahre werden vergehen, bis die Niveder wieder so leben können, wie vor der Zeit der Bedrohung. Dazu aber brauchen sie einen Führer, und zu diesem hat mich das Orakel Saadhs bestimmt. Wie könnte ich gegen den Willen des Gottes verstoßen und mein Volk ein Jahr sich selbst überlassen? Ich bin zutiefst dankbar für die Hilfe, die du uns angeboten hast und würde dir diese Dankbarkeit gern zeigen. Ich will gern alles tun, was du verlangst, wenn es in meiner Macht steht. Die Erfüllung dieses Wunsches jedoch liegt nicht in meinen Händen.“
Das Nebelmädchen lächelte traurig. „Es ist nett von dir, dass du mich glauben machen willst, als bliebest du gern, wenn du nur könntest. Ich will daher so tun, als glaube ich dir. Doch nun lasst uns wieder die Schlitten besteigen. M'Nor wird schon ungeduldig, denn wir haben noch eine ziemliche Strecke vor uns.“
Als die grauen Nebelschwaden im schwindenden Licht der Dämmerung dunkler wurden, erreichte die kleine Schar der Reisenden einen gefrorenen See, der am Fuß steil aufragender Felsmassen lag. Dichte Dunstwolken zogen an der schroffen Steilwand empor und verhüllten den Blick der Männer auf ihre Höhe. Am Ufer des Sees hatten unsichtbare Helfer ein Lager aufgeschlagen, und die Königin wies die drei Gefährten an, dort während der dämmrigen Nachtzeit zu verweilen.
„Ich selbst werde nicht hier bleiben“, sagte sie. „Mich ruft der Dienst im Tempel der Göttin. Drei Nächte in jeder Dekade muss ich ihr dienen. Wenn der Morgen kommt, werde ich wieder hier sein. Doch während meiner Abwesenheit ist es euch streng untersagt, den Bereich des Lagers zu verlassen. Lasst euch warnen und folgt meinem Befehl! Nicht nur M'Nor wird darauf achten, dass ihr nicht unversehens den Fuß auf geheiligten Boden setzt. M'Nor wartet nur darauf, und keiner meiner Untertanen kann verstehen, dass ich euch hierher mitnahm. Viele murren bereits über mich. Daher ist mein Befehl gleichzeitig eine Bitte, denn eine Unbedachtheit von euch könnte auch mich in Gefahr bringen. Während meines Aufenthalts im Tempel könnte ich euch nicht einmal beistehen, denn ich darf ihn sieben Stunden nicht verlassen, es geschehe, was wolle! Folgt ihr meinen Anweisungen jedoch getreulich, wird euch morgen ein Anblick geboten, der euch für die Mühsal eurer Reise aufs Beste entschädigen wird. Ich wünsche euch einen ruhigen Schlaf. Möge Naminda über euch wachen!“
Damit wandte sie sich um und war im Nebel verschwunden. Schweigsam saßen die Gefährten am Feuer des Lagers und kauten gedankenverloren an ihrem Abendbrot.
Kandon brach als erster die Stille. „Ich muss ganz ehrlich sagen, dass mir fast das Herz stillstand, als du Vanea von unserem Vorhaben erzähltest“, sagte er. „Ich sah uns schon in M'Nors sechs Armen zu Nebelfetzen zerrissen. Aber wie es scheint, hast du wieder mal instinktiv das einzig Richtige getan. Nie hätte ich gedacht, dass ausgerechnet die Königin uns dabei helfen will, ein Stück dieses sagenhaften Heiligtums zu bekommen.“
„Ich glaube nicht, dass es nur Instinkt war, der Yorn so handeln ließ“, meinte Reven. „Ist es nicht so, Yorn?“
„Nein, es war nicht nur Eingebung“, gestand Yorn zu. „Ich war irgendwie misstrauisch, denn ich konnte mir den plötzlichen Sinneswandel Vaneas nicht ganz erklären. Erst war sie über unser Ansinnen hell empört, und dann ist sie auf einmal bereit, uns dieses streng gehütete Geheimnis zu offenbaren. Dahinter musste irgendetwas stecken, was ich noch nicht klar sehen konnte. Als sie dann jedoch so eindringlich von Vertrauen sprach, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sicher hatte weder sie noch M'Nor mir die Geschichte abgenommen, dass wir das Heiligtum nur zu sehen wünschten, damit unsere Reise nicht umsonst war. Es war den beiden klar, dass wir versuchen würden, unser Ziel zu erreichen. Ich möchte annehmen, dass M'Nor fest davon überzeugt war, dass wir Vanea unsere Absicht bis zuletzt verheimlichen würden. So sah er sich seiner Rache schon ganz nahe, und er hätte Vanea wieder einmal beweisen können, wie schlecht die Menschen sind. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass uns Vanea die Geschichte ihrer Herkunft erzählen würde und dass die menschliche Seite in ihr so stark
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