Das Orakel von Antara
Während er sprach, steigen die Bilder der lieblichen Landschaft wieder vor seinen Augen auf, und er glaubte mit einmal, dass selbst der Wasserfall in seiner Pracht nicht schöner war als der Blick von ihrem Lieblingsplatz hoch über dem Fluss. Er sah das silberne Band des Stroms, der sich durch grüne Auen und dunkle Wälder wand, sah zu seinen Füßen das samtige Blau der Glockenblumenbüschel, auf denen der Tau wie vom Himmel gefallene Saphire glänzte, und das Gold der im sanften Wind wogenden Kornfelder. Das kalte Glitzern des Wasserfalls berührte das Herz nicht so tief wie die warmen Töne des leuchtenden Laubwaldes, wenn das Grün der Blätter sich in die Flammenfarben des Herbstes wandelte. Und war nicht Vanea genau wie das Heiligtum des Nebelreiches - wunderschön, doch kalt und fremd, von zarter Zerbrechlichkeit und doch starr und ohne das blutvolle Leben der antarischen Frauen? Auch sie, die Königin dieses seltsamen Landes, konnte man nur von fern bewundern. Schauderte man vor der Berührung des Eises nicht genauso zurück wie vor der von Vaneas Hand? Je öfter Yorn Vanea betrachtete, desto größer wurde der Zwiespalt in seinem Herzen. Gewiss, Vanea war schön, und er fühlte sich auf eine unerklärliche Weise von diesem Geschöpf angezogen und fasziniert, doch andererseits war da diese Abscheu, der Schauder, den er im steigenden Maße empfand, je länger er sie ansah. Hier im dünneren Nebel nahe dem See wirkten die fließenden, unscharfen Konturen ihres Körpers noch befremdlicher. Das Sonnenlicht über dem heiligen Ort erhellte den umliegenden Dunstkreis und ließ Vaneas Haut noch durchsichtiger erscheinen. Wenn sie sich bewegte, flossen die Bahnen ihres wie aus Nebel gewebten Gewandes in sinnenverwirrender Weise um ihre Glieder, als gehorchten sie nicht der Schwerkraft, sondern folgten eigenen Gesetzen. Wenn Yorn seinen Blick längere Zeit auf Vanea ruhen ließ, begann ihr Bild leicht vor seinen Augen zu verschwimmen, ja, schien sich fast aufzulösen. Leichte Übelkeit stieg in ihm hoch, wenn er dann versuchte, ihren Anblick schärfer zu fassen. Immer wieder musste er daher fortsehen, und erst die Gestalten der Gefährten, vertraut und lebenswarm, gaben ihm dann seine Sicherheit zurück.
Als es Abend wurde, kehrte Vanea ins Heiligtum zurück. Eine Weile noch saßen die drei Männer um das blau glimmende Feuer, das seine Energie aus eigenartigen Steinen bezog, die wohl einer von Vaneas Dienern herbeigeschafft hatte. Die Flammen gaben zwar Licht, doch nur wenig Wärme, und so starrten die Gefährten missmutig vor sich hin.
„Wenn wir noch lange hier so herumsitzen müssen, werde ich bald genauso eingefroren sein wie dieses verfluchte Land hier“, maulte Reven auf einmal. „Ich habe bereits das Gefühl, als erstarre ich langsam.“
Yorn und Kandon schauten verwundert auf. Ausgerechnet Reven, der sonst die Ruhe selbst war, begann ungeduldig zu werden. Reven sah die überraschten Blicke der Freunde und fuhr sich verlegen mit der Hand durchs Haar.
„Na ja“, sagte er dann entschuldigend, „ich weiß ja, dass wir auf Vaneas Hilfe warten müssen. Aber das ist es ja gerade, was mich so fahrig macht: mich auf Gedeih und Verderb jemandem anvertrauen zu müssen, von dem ich nicht einmal weiß, ob er ehrlich spielt!“
„Uns bleibt aber keine andere Wahl, Reven“, sagte Kandon. „Auch ich bin unruhig, denn ich habe das Gefühl, dass bald irgendetwas Schreckliches passiert. Nith hat uns vor den Gefahren dieses Landes gewarnt, doch bis jetzt ist nichts geschehen, was uns ernstlich in Gefahr gebracht hätte. Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde, dass bis jetzt alles zu glatt gegangen ist.“
„Mir geht es ebenso“, gab Yorn zu. „Irgendetwas liegt in der Luft - etwas Bedrohliches! Es ist, als sei der Nebel mit Zorn geladen. Auch um meine Brust liegt ein Ring aus Furcht und Eis, der mir fast den Atem nimmt. Es geht etwas vor dort im Heiligtum, und ich ahne, dass es nichts Gutes ist. Aber wir können nicht nachsehen gehen, wenn wir uns nicht in Gefahr begeben wollen. Wir können nur abwarten, und darum sollten wir jetzt versuchen zu schlafen. Vielleicht brauchen wir noch all unsere Kraft, und außerdem verkürzt es die Wartezeit.“
Sechstes Kapitel
Bald lagen die Männer, in ihre Pelze gehüllt, dicht beieinander, doch keiner von ihnen konnte einschlafen. Immer wieder lauschten sie in die gespenstisch wallenden Nebel hinaus, doch nichts rührte sich.
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