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Das Orakel von Antara

Das Orakel von Antara

Titel: Das Orakel von Antara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Galen
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ihr ihn sehen!“
     
    Und dann stockte den Freunden der Atem. Dort, wo der Rand des Sees an den Felshang stieß, fiel aus gut siebzig Fuß Höhe eine funkelnde Kaskade nieder. Im gefrorenen Schaum des Wasserfalls, der wie ein kostbarer Schleier aus zartem Spitzengewebe den Felsen bedeckte, brach sich das Licht der schräg einfallenden Sonnenstrahlen in tausend Farben. Es glitzerte und funkelte, als ergösse sich eine Flut von geschliffenen Diamanten in die Tiefe. So schnell musste dereinst das fallende Wasser gefroren sein, dass es so aussah, als schäume noch immer der lebendige Katarakt die glatt polierten Felsen hinunter. Selbst die filigransten Sprühregen des Wasserfalls waren zu duftigen Spitzengebilden erstarrt. Der Anblick dieses gewaltigen und doch so zarten Naturschauspiels ließ die Männer stumm dastehen, und überwältigt von der majestätischen Schönheit tranken sie dieses köstliche Bild in sich hinein.
     
    „Nun?“ flüsterte Vanea. „Hatte ich Recht, als ich sagte, dass ihr nie im Leben etwas Schöneres saht?“
     
    Yorn musste seine Stimme erst wiederfinden, die ihm der prachtvolle Anblick geraubt hatte. „Dieses Bild werde ich nie vergessen, so lange ich lebe!“ sagte er ergriffen. „Es ist, als seien die funkelnden Kaskaden die Stufen hinauf zu Saadhs hehrem Reich.“
     
    „Ja, es ist wundervoll, und auch ich sah nie etwas Schöneres“, meldete sich Reven. Doch sein praktischer Sinn verlangte sogleich eine Erklärung. „Sag mir, oh Königin, wie konnte das geschehen, dass das Wasser so plötzlich gefror, wie es den Anschein hat? Es kann nur einen Lidschlag lang gedauert haben, dass der ganze Wasserfall erstarrte.“
     
    „Niemand weiß, wie es geschah“, antwortete Vanea. „Doch die Legende sagt, dass in einem einzigen Augenblick das ganze Land zu Eis erstarrte. Es heißt, dass Naminda einen Geliebten hatte, an dem ihr ganzes Herz hing. Sie war glücklich mit ihm, und das Land hier blühte unter ihrem Glück. Doch Niga-Ran, der Gott der Unterwelt, war auch in Naminda verliebt und gönnte ihrem Geliebten dieses Glück nicht. Darum lauerte er ihm eines Tages auf und erschlug ihn. Als die Göttin den Erschlagenen fand, war noch ein Funken Leben in ihm, doch sein Körper begann schon kalt zu werden. In ihrer Angst entzog Naminda mit einem Schlag dem Land alle Wärme, um den Geliebten damit zu beleben und zu retten. Doch es war vergebens, er starb in ihren Armen! In ihrer grenzenlosen Trauer hüllte Naminda das ganze Land in ihren Schleier und schwor, dass nie wieder ein Sonnenstrahl auf den Ort ihres verlorenen Glücks fallen solle. Nur den Wasserfall ließ sie im Licht, denn er erinnerte sie an die Stunden, die sie mit dem Geliebten an diesem Ort verbracht hatte. Die heißen Quellen jedoch, die dem Boden überall entströmen, sind die Tränen der Göttin, die sie noch heute um den so grausam Gemordeten weint. Wir glauben, dass diese Geschichte wahr ist, denn nie trübt eine Schneeflocke den Glanz des Wasserfalls, kein Wind zerbricht das zarte Filigran seines Eisschleiers. Naminda hütet diesen Ort, und manchmal, wenn ein leiser Lufthauch geht, hört man ihr Klagen vom Wasserfall herüberdringen. Versteht ihr nun, warum dieser Ort uns heilig ist? Dort drüben auf der Landzunge, die in das Eis des Sees hineinragt, steht der Tempel der Göttin. Von da aus übersieht man den ganzen See, und die Farben des Wasserfalls erscheinen dort noch strahlender. Niemand weiß, wann der Tempel erbaut wurde, und es heißt, dass Naminda selbst ihn errichtete, um dort der Erinnerung an den Geliebten nahe zu sein.“
     
    Lange noch blickten die Männer bewundernd zum Farbenspiel des Katarakts hinüber. Dann fragte Yorn: „Werden wir länger hier verweilen, Herrin, oder kehren wir zu deinem Palast zurück?“
     
    „Ich sagte euch doch, dass ich der Göttin drei Nächte lang dienen muss“, antwortete Vanea. „M’Nor würde mich während dieser Zeit nie verlassen, und allein findet ihr den Weg zurück nicht. Daher müsst auch ihr bleiben, bis ich wieder aufbreche. Und außerdem wollt ihr doch bestimmt erfahren, ob die Göttin euren Wunsch erfüllt. Habt daher Geduld! Ich werde versuchen, was ich kann.“
     
    Den ganzen Tag blieb Vanea bei den Männern im Lager, und Yorn und die anderen mussten ihr von Antara und seinen Stämmen erzählen. Immer wieder fragte sie nach dem Land und wollte jede Kleinigkeit genau erklärt haben. Yorn beschrieb ihr den Fluss, an dem er und Reven aufgewachsen waren.

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