Das Orakel von Antara
tränennaher Stimme fragte:
„Ich sehe entsetzlich aus, nicht wahr?“
„Was? Wie?“ Yorn fuhr aus seiner Versunkenheit auf. „Entsetzlich? Aber Vanea, wie kommst du denn darauf? Nein, nein, nie sah ich ein schöneres Mädchen als dich in unserem Volk! Wirklich - das dunkle Haar und die Kleider stehen dir gut - es ist nur - du bist eben völlig verändert und ich muss mich erst an deinen neuen Anblick gewöhnen.“
Über Vaneas Wange rollte eine Träne. „Du magst mich so nicht mehr, stimmt es? Nun bin ich nicht mehr das seltsame Wesen, die geheimnisvolle Frau, die dich so fasziniert hat. Nun bin ich wie alle anderen Frauen, ein einfaches, antarisches Mädchen - und der besondere Reiz, der dich anzog, ist verflogen.“
Ehe Yorn antworten konnte, sagte Nith: „In einem bist du wirklich wie alle anderen Frauen, Vanea. Auch du möchtest gern hören, dass du dem Mann gefällst, den du liebst. Yorns Liebe wäre nicht viel wert, wenn eine so geringe Verwandlung sie zum Schwinden brächte. Schau ihn nicht so vorwurfsvoll an! Auch ich, der ich deine Verwandlung miterlebt habe, war völlig überrascht über das Ergebnis. Aber sei unbesorgt! In wenigen Tagen haben alle sich so an dein neues Aussehen gewöhnt, dass sie kaum noch wissen werden, dass du jemals anders ausgesehen hast. Aber denke daran, was ich dir sagte: je öfter du dein Haar wäschst, desto schneller wird es die Farbe verlieren, und du musst es erneut mit dem Pflanzensaft tränken.“
Vanea schien von Niths Worten getröstet, denn nun lächelte sie wieder und schmiegte sich in die Arme Yorns, der sie neckend an ihrem neuen Zopf zog. Den Rest des Tages verbrachten die fünf damit, unter den Ruinen des Dorfes nach unversehrten Dingen zu suchen. Alles, was man fand, wurde in die Vorratshöhle gebracht. Zumindest etwas sollten die Niveder wiederfinden, sollten sie je in ihr Tal zurückkehren.
Mit Trauer und Zorn betrachteten die Männer immer wieder ihr zerstörtes Versam mlungshaus und die zerschlagene Statue Saadhs. Die rohen Krieger der Moradonen hatten ganze Arbeit geleistet und nicht einmal davor zurückgeschreckt, das Standbild des Gottes zu entweihen.
Am Abend begab man sich schon bei Dämmerung zur Ruhe, denn Nith hatte frühen Au fbruch befohlen. So standen die Pferde bereits bei den ersten Sonnenstrahlen gesattelt auf dem Platz. Ein letztes Mal kniete Nith vor der zerborstenen Statue Saadhs nieder.
„Gib, oh Herr, dass endlich die Schmach der Unterdrückung von uns genommen werde!“ flehte er. „Steh deinen Dienern bei, damit auch dieses letzte Unheil hier vergolten und der Frevel an deinem Heiligtum gerächt werde. Möge das Blut aller erschlagenen Antaren über die verfluchten Dämonenknechte kommen, die ein einst so stolzes Volk zu Sklaven und gejagten Flüchtlingen machten. Gib uns unsere Heimat wieder, das Land der grünen Hügel und der schimmernden Seen. Lass uns nicht länger gehetzt in den kargen Einöden der Wildnis unser Leben fristen, wo unsere fruchtbaren Äcker der Hand des Landmanns harren, wo unsere Flüsse voller Fische und die Wälder reich an Wild sind. Erfülle deine Verheißung und gib uns endlich das zurück, was wir mehr ersehnen als alles andere: Frieden und Freiheit! Geleite den Mann unter deiner segnenden Hand, den du zu unserer Rettung sandtest und den du bis heute stets behütet hast - auf dass dein Volk dich mit dankbarem Herzen preisen kann!“ Dann erhob sich der alte Priester und reichte den Gefährten zum Abschied die Hand. „Nun reitet in Saadhs Namen!“ sprach er. „Nie gingen Menschen unter so vielen guten Wünschen und begleitet von so viel Hoffnung auf eine Reise wie ihr. Kehrt ihr zurück, so werdet ihr mich bei den Lidonen finden, die ich an die Grenzen von Moradon führen werde. Und dort werdet ihr auch das letzte Heer der Antaren sehen, das bereit ist für die alles entscheidende Schlacht. Kehrt ihr jedoch nicht zurück, bevor der Schnee des nächsten Winters schmilzt, wird dieses Heer ohne Hoffnung, doch mit dem Mut der Verzweiflung gegen Moradon ziehen. Das wird dann wohl das Ende der Antaren, aber auch das Ende ihrer Unterdrückung sein. Lebt wohl!“
Mit ernsten Gesichtern bestiegen die Freunde ihre Pferde. Am Ausgang des Tales wandten sie sich noch einmal zu der einsamen Gestalt um, die dort inmitten der Zerstörung stand, den Arm zum Abschied grüßend erhoben, den treuen Hund zu seinen Füßen. Würden sie Nith jemals wiedersehen?
Neuntes Kapitel
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