Das Orakel von Margyle
In kleinen Gruppen verließen die Männer langsam den Raum, bis nur noch zwei übrig blieben. Maura riskierte vorsichtig einen Blick und erkannte den Ersten Gouverneur an seiner prächtigen Kleidung. Auf dem Kopf trug er einen Helm, wie sie ihn ihr Leben lang von hanischen Soldaten kannte, nur war der seine auf Hochglanz poliert und mit Edelsteinen besetzt. Der üppige Schweif aus flachsfarbenem Haar, der über den Helm herabfloss, war so hell, dass er schon fast weiß wirkte.
Der andere Mann war der Todesmagier, mit dem Maura letzte Nacht um Haaresbreite zusammengestoßen wäre. In seiner strengen schwarzen Robe mit Kapuze hätte er keinen größeren Kontrast zum Gouverneur bieten können. Doch obwohl sie so unterschiedlich aussahen, umgab die beiden Männer doch eine ähnliche Aura vibrierender, gespannter Kraft.
Im Augenblick standen sie sich gegenüber und wechselten scharfe Worte wie Schwertstreiche. Keiner der beiden schien bereit zu sein, sich aus diesem verbalen Duell in absehbarer Zeit zurückzuziehen, und da sie so sehr miteinander beschäftigt waren, wagte Maura es, um sie herum und zur Tür zu schleichen.
Sie hatte sie beinahe erreicht, als sich der Erste Gouverneur mit einem Mal jäh von dem Todesmagier abwandte und auf sie zukam. Gerade noch rechtzeitig konnte Maura ihm aus dem Weg springen, doch dabei verlor sie das Gleichgewicht. Auch wenn sie die Lippen zusammenpresste, um einen Aufschrei zu unterdrücken, das leise Geräusch des Aufpralls auf dem Boden konnte sie nicht verhindern.
Der Todesmagier hatte dem Ersten Gouverneur hinterhergestarrt. Auf seinen ausgemergelten Zügen lag ein Ausdruck eisigen Triumphs. Jetzt ging er auf Maura zu, die zur Salzsäule erstarrte, weil sie sich sicher war, dass er das dumpfe Hämmern ihres Herzens und das ohrenbetäubende Keuchen ihres Atems hören musste.
Sein grimmig drohender Blick lähmte sie. Doch als sie in die dunklen Tiefen seiner Augen blickte, unfähig, seinem Blick auszuweichen, erhaschte sie etwas, von dem sie niemals erwartet hätte, es dort zu finden. Den Schatten eines Zweifels … vielleicht war es sogar Furcht.
Dann ertönte vor der Tür eine Stimme und der Todesmagier schaute zur Seite. Der raue hanische Tonfall klang süß in Mauras Ohren, während sie auf die Füße sprang und in eine Ecke des Raums flüchtete. Nach einem raschen Wortwechsel mit dem Offizier, der ihn von der Tür her angesprochen hatte, ließ der Magier noch einmal kurz den Blick durch den Raum schweifen und schritt hinaus.
Maura ließ sich zu Boden sinken. Sie zitterte so stark, dass sie nicht zu gehen wagte. Aber der Raum war ein gefährlich öffentlicher Ort. Hier durfte sie nicht lange bleiben. Nach einiger Zeit legte sich ihre Aufregung und sie machte sich auf den Weg zurück in den Keller. Jetzt musste sie einen Moment allein sein, um wieder zu sich zu kommen, bevor sie sich in die Stadt wagte, um nach Delyon zu suchen.
Während sie durch die Korridore kroch und sich an den Rückweg zu ihrem Versteck zu erinnern suchte, ließ der Duft von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot ihren Magen gequält knurren. Sie entschied, ihre Unsichtbarkeit zu nutzen, und folgte den Wohlgerüchen in die Palastküche. Dort musste sie sehr aufpassen, nicht mit den hin und her eilenden Bediensteten zusammenzustoßen. Trotzdem gelang es ihr, ein paar Sachen unter ihrem Mantel verschwinden zu lassen. Kaum fähig, an etwas anderes als ans Essen zu denken, lief sie in den Keller und fand auch bald den Vorratsraum, den sie und Delyon zu ihrem Versteck gemacht hatten.
Erleichterung und Wut stritten in ihr, als sie die Tür aufstieß und kurz ein kleines Grünfeuer aufleuchten sah, bevor es erlosch.
“Delyon?” Maura zog die Tür hinter sich zu und zum ersten Mal an diesem Abend atmete sie erleichtert auf. “Dem Allgeber sei Dank, Ihr seid unversehrt! Was ist nur in Euch gefahren, einfach so auf und davon zu gehen, ohne mir ein Wort zu sagen? Ich war außer mir vor Angst!”
“Ich bin ein erwachsener Mann”, fauchte er sie an, “kein Kind! Ich kann selbst auf mich aufpassen.”
Er war noch am Leben und er hatte den Weg zurückgefunden. Insofern hatte er womöglich recht.
“Verzeiht.” Sie tastete sich in die Richtung, aus der seine Stimme kam. “Ich wollte Euch nicht beleidigen. Doch in einer so gefährlichen Situation müssen wir zusammenarbeiten. Der Allgeber weiß, wir haben keine anderen Verbündeten, auf die wir zählen können!”
Er ließ einen vagen Laut der
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